Rund drei Millionen Venezolaner haben laut neuen UN-Angaben ihr Land seit Aufbruch der Krise verlassen, die meisten sind in die Nachbarländer Kolumbien und Peru gewandert. Unter den verbliebenen etwas mehr als 30 Millionen Venezolanern hat sich die humanitäre und wirtschaftliche Krise drastisch verschärft. Millionen Menschen sind schwer unterernährt, besonders Kinder hungern.
Ein Beispiel ist Natalia, elf Monat alt. Sie wiegt bloß vier Kilogramm – etwa halb so viel, wie für ein gesundes Kind ihrer Größe normal wäre. Wie Tausende andere Frauen hat ihre alleinerziehende Mutter das Mädchen nicht mehr versorgen können. Natalie kam in eine Versorgungsstation der privaten Organisation Meals4Hope in der Stadt San Felix im Bundesstaat Bolivar. Meals4Hope wurde vor drei Jahren von Venezolanern aus dem Ausland gegründet. Heute liefert die Organisation jeden Tag in Suppenküchen und Notfallzentren für etwa 1 800 Kinder Essen, Nahrungsergänzungsmittel, Milchpulver sowie auch Medizin und Pflegemittel. Die Kinder, die dorthin kommen, sind in der Regel von ihren Eltern verlassen worden und ganz auf sich gestellt. Viele leben auf der Straße.
„Es gibt Kinder, die vor Unterernährung sterben, die Situation ist dramatisch“, sagt Carolina de Oteyza, die Direktorin von Meals4Hope, im Gespräch mit der Tagespost. „Wir sehen mehr und mehr Kinder, die ganz allein sind. Mehr und mehr Eltern geben ihre Kinder weg, weil sie sie nicht mehr ernähren können. Einige verkaufen ihre Kinder. Viele Frauen schaffen es vor Armut oder aus Krankheit nicht mehr, für ihre Kinder zu sorgen.“
Offizielle Zahlen der sozialistischen Regierung von Nicolás Maduro über die humanitäre Lage gibt es keine mehr. Maduro hat alle Veröffentlichungen stoppen lassen. Die letzten Zahlen wurden im April 2017 veröffentlicht. Damals hieß es, dass die Kindersterblichkeit in den Geburtskrankenhäusern um 30 Prozent gestiegen sei und dass 66 Prozent mehr Mütter sterben. Zudem gibt es einen gefährlichen Anstieg von Malaria- und Diphterie-Erkrankungen. Eine Woche nach der Veröffentlichung dieser Daten wurde der Gesundheitsminister entlassen. Seitdem gibt es keine offiziellen Berichte mehr. Nach Erzählungen von Ärzten und Augenzeugen sind die Zustände in den Krankenhäusern fürchterlich. Es fehlen Medizin, Geräte und Personal. Patienten liegen auf dreckigen Matratzen auf dem Boden. Selbst sauberes Wasser ist in manchen Krankenhäusern Mangelware. Aufgrund von Stromausfällen können die Ärzte nicht richtig arbeiten.
Staatschef Nicolás Maduro bleibt bei seinem Kurs, dass es gar keine breite Versorgungskrise und keinen Massenhunger in seinem Land gebe. Dies seien alles „falsche Nachrichten“ der Opposition, um die Regierung zu diskreditieren. Nach Schätzungen privater Institute leben inzwischen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, mehr als 60 Prozent sogar in extremer Armut. Damit hat das Land einen beispiellosen sozialen Absturz erlebt. Denn noch vor zwanzig Jahren galt Venezuela als eines der wohlhabendsten Länder in Lateinamerika. Es verfügt über die größten nachgewiesenen Erdölreserven der Welt und konnte viele Jahre vom Ölexport gut leben. Nach dem Verfall des Ölpreises vor vier Jahren wurde das Ausmaß der Misswirtschaft offensichtlich. Die Ölproduktion ist eingebrochen.
Seit 2013, als Maduro die Präsidentschaft übernahm, ist die Wirtschaft um mehr als 40 Prozent eingebrochen. Zudem gibt es eine Hyperinflation. Laut Berechnungen des Internationalen Währungsfonds hat die Inflationsrate wohl die Millionengrenze überschritten und könnte auf 2,5 Millionen Prozent steigen.
Nicht nur die Unterschicht, auch die gesamte Mittelschicht ist verarmt. Die Regierung will aber keine internationalen Hilfsprogramme akzeptieren. Nur nicht-staatlichen Organisationen (NGOs) ist es erlaubt, im Land tätig zu sein. Die katholische Caritas ist ein wichtiger Faktor, die über kirchliche Netzwerke Hilfe organisiert. Daneben gibt es noch kleine private Initiativen wie Meals4Hope.
„Als wir vor drei Jahren anfingen, haben wir von Freunden und Verwandten so viele alarmierende Berichte gehört, über Kinder, die in der Schule vor Hunger ohnmächtig werden, weil sie mehr als einen Tag lang nichts gegessen haben“, erzählt Carolina de Oteyza. Die Helfer sind in 29 Orten tätig und arbeiten auch mit der christlichen Organisation Fe y Alegría („Glaube und Freude“) zusammen, die Schulen betreibt. Von der Regierung erhält sie keine Unterstützung. Im Gegenteil: Es kam vor, dass private Helfer von den regierungsnahen bewaffneten „revolutionären Milizen“ bedroht wurden. Ihre Arbeit wird auch durch ein Gesetz erschwert, das das „Horten“ von Lebensmitteln unter Strafe stellt.
Jeder Transport von Hilfsgütern kann damit beschlagnahmt werden. Carolina de Oteyza erzählt all diese Dinge mit Trauer in der Stimme. „Wir bitten die Regierung nicht um Unterstützung, wir bitten nur darum, dass sie uns nicht noch blockiert.“ Trotzdem gibt sie nicht auf. Sie will ihren Landsleuten etwas Hoffnung geben. Allerdings ist klar, dass solche Initiativen nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind in einem Land, in dem Millionen hungern.
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