Anders als im Jahr 2010, als schon einmal Missbrauchskrisen die Kirche erschütterten, und auch anders als Anfang des Jahrhunderts, als vor allem die entsprechenden Skandale in den Vereinigten Staaten zum Handeln zwangen, ist die aktuelle Debatte um sexuelle Vergehen von Klerikern an Schutzbefohlenen von zahlreichen Versuchen geprägt, das Thema Missbrauch für ganz andere Ziele zu instrumentalisieren. So meinte der bekannte Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, man brauche nun „eine Fakultativstellung des Zölibats für Diözesanpriester“. Außerdem müssten jetzt Frauen „mindestens zum Diakonat zugelassen werden“, aber auch eine Priesterweihe für Frauen sei „ergebnisoffen“ zu prüfen.
Zu Eltz steht nicht allein. Seitdem vor zwei Wochen Zahlen und Fakten aus dem von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegebenen Missbrauchsbericht vorab veröffentlicht wurden, reißt die Forderung nicht ab, den Zölibat auf den Prüfstand zu stellen. Dabei belegen seriöse Statistiken die Tatsache, dass in der Gesellschaft Missbrauchsvergehen zu einem fast gegen hundert Prozent tendierendem Maß von Männern begangen werden, die nicht zölibatär leben. Und wer nun nach der Weihe der Frau ruft, ignoriert, dass es in Einrichtungen wie Schulen, Sportvereinen oder Heimen, in denen Missbrauchsvergehen immer wieder geschehen, natürlich auch Lehrerinnen, Trainerinnen und Erzieherinnen gibt – und sich dort dennoch männliche Kollegen an Kindern und Heranwachsenden vergreifen.
Andere nutzen das Thema Missbrauch, um die Debatte über Kirche und Homosexualität zu befeuern – auf die eine oder andere Weise. Der Berliner Jesuitenpater Klaus Mertes, der 2010 die Missbrauchskrise der Kirche in Deutschland auslöste, meinte jetzt, die „Verteufelung der Homosexualität“ zeige sich momentan auch in der „homophoben Verteidigungslinie, die die katholische Kirche beim Thema sexueller Missbrauch einnimmt: sie behauptet, dass die schwulen Kleriker daran schuld seien“. Ist man schon homophob, wenn man nur zur Kenntnis nimmt, dass auffallend viele männliche Jugendliche Opfer von Missbrauchstätern unter den Klerikern sind? Wenn man da von „homophober Verteidigungslinie“ spricht, diskreditiert man von vorneherein das durchaus notwendige Bemühen der Kirchenverantwortlichen, einmal genauer hinzuschauen und zu fragen, ob es nicht die homosexuellen Netzwerke von Klerikern sind, die dazu neigen, ein Missbrauchsvergehen durch einen der ihren nicht so ernst zu nehmen, zu verschweigen oder gar zu vertuschen.
Umgekehrt dienen die Missbrauchsskandale konservativen Kreisen – vor allem in den Vereinigten Staaten (und nicht „die katholische Kirche“!) – als Keule gegen Homosexuelle im Klerus. Wer immer das Thema Missbrauch nutzt, um eine eigene Kirchenagenda zu befeuern, verbaut den Weg zu einer wirklichen Aufarbeitung, Wiedergutmachung und Umkehr, nach denen diese Skandale schreien. Und wem die Fälle Chile oder McCarrick Anlass sind, jetzt mit dem Pontifikat von Franziskus abzurechnen und – wie es Ex-Nuntius Vigano getan hat – den Papst zum Rücktritt aufzufordern, zerstört vollends die Atmosphäre, in der es in der Kirche eine Heilung von der Pest des Missbrauchs geben kann. Weder der Zölibat noch die Homosexuellen sind an dieser schuld, sondern der Verlust des Glaubens.