Kurz vor Weihnachten letzten Jahres bin ich auf die Insel Lesbos gereist, um mir die Situation der Asylsuchenden in den berüchtigten griechischen Lagern selber anzuschauen. Die Reise hat von Brüssel aus mit dem Flugzeug knapp sechs Stunden gedauert, dann war ich in Mytilene, der malerischen Hauptstadt der Insel angekommen. Im kleinen Hafen schaukelten Fischerboote und eine Fähre, am Horizont konnte ich das einige Kilometer entfernte türkische Festland sehen. Mit dem Auto waren es danach nur noch ca 20 Minuten in die zum Flüchtlingslager umfunktionierte ehemalige Kaserne Moria.
Es geht um die Behandlung der Menschen
Was ich dort gesehen habe, hat mich zutiefst schockiert. Natürlich kannte ich die Bilder der Zelte, des Mülls, der langen Warteschlangen bei der Essensausgabe. Aber wirklich dort zu sein, inmitten unserer europäischen Hochkultur, in all dem Geruch, dem Leiden, dem Dreck war schrecklich. Mehr als 20.000 Leute leben im Lager Moria, teilweise seit Jahren, in einem Lager das für maximal 3.000 Menschen Kapazität hat. Kinder, Frauen und Menschen mit Behinderung liegen und stehen überall herum, warten dreimal täglich mehr als drei Stunden in langen Schlangen auf ihr Essen, einen Asyltermin, eine Krankenschwester. Krankheit, Trauma, Verbrechen, Tod - all das ist an der Tagesordnung. Erst letzte Woche ist wieder ein Minderjähriger erstochen worden, die Woche davor sind zwei Menschen in ihrem Zelt verbrannt.
Machen wir uns nichts vor: Es ist nicht unsere Entscheidung, dass diese Menschen gekommen sind. Aber es unsere Entscheidung, wie wir mit ihnen umgehen.
Es geht hier in erster Linie um die Behandlung der Menschen, während sie auf ihre Asylentscheidung warten, nicht darum, sie langfristig aufzunehmen. Es geht darum, anzuerkennen, dass Griechenland Teil der EU und von Schengen ist und dass wir dadurch automatisch mit verantwortlich für das beschriebene Leid sind. Es geht darum, dass einige deutsche Politiker hinter vorgehaltener Hand dieses Leiden und Sterben als Abschreckungspolitik hinnehmen.
Fahrlässig und mörderisch, die Camps nicht zu räumen
Seit meinem Besuch vor Weihnachten und von einem Hochfest zum nächsten hat sich die Situation von einer humanitären Notlage durch COVID-19 zu einer potentiellen gesundheitlichen Katastrophe weiterentwickelt. Heute ist es fahrlässig und mörderisch, diese Camps nicht unverzüglich zu räumen und die Asylsuchenden auf die EU und die leeren Hotels in der Gegend zu verteilen - natürlich mit Zwei-Wochen Quarantäne. Ein Ausbruch in den Lagern würde unweigerlich zu tausenden Toten führen, da weder Camps noch Inseln die richtigen Präventionsmaßnahmen oder medizinische Versorgung anbieten könnten. Diese Evakuierung und Verteilung auf andere EU Länder muss stattfinden, bevor (!) das Virus die Lager erreicht, also heute und jetzt. Und das wird nur funktionieren, wenn Deutschland, also unser Innenminister Horst Seehofer und Kanzlerin Angela Merkel mit gutem Beispiel vorangehen. Das ist kurzfristig notwendig.
Mittelfristig müssen wir endlich unser europäisches Haus aufräumen: Ein europäisches und solidarisches Asylsystem, das effizient das internationale Asylrecht aufrechterhält, ist umsetzbar. Die Zahlen der Asylsuchenden sind heute gering. Dass es die Innenminister aller EU Länder seit 5 Jahren nicht einmal schaffen, sich zu diesem Thema an einen Tisch zu setzen, hat mehrere Effekte: Die rechtsnationale Panikmache wird trotz geringer Zahlen weiter angefeuert; Menschen werden traumatisiert und sterben in unserer Obhut; die EU verliert aufgrund der nationalen Blockaden an Legitimität; und sie macht sich erpressbar gegenüber Präsident Erdogan.
Meiner Meinung nach braucht es hier Menschlichkeit, Nächstenliebe und eine kleine Portion Weitsicht: Deutsches Interesse vertreten heißt endlich ein Europäisches Asylsystem entwickeln, das Leiden auf europäischem Boden und das Sterben im Mittelmeer beenden.
Der Autor ist deutscher Abgeordneter des Europaparlamentes für die Partei Volt.
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