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Volodymyr Hrutsa: "Die Ukraine kämpft und überlebt"

Volodymyr Hrutsa ist Weihbischof der griechisch-katholischen Kirche in der Erzdiözese Lemberg. Mit der „Tagespost“ sprach er über die Stimmung nach einem halben Jahr Krieg, historische Verdienste seiner Kirche, Seelsorge für Kriegsversehrte und die göttliche Pädagogik in der Weltgeschichte.
Weihbischof Volodymyr Hrutsa
Foto: Erzdiözese Lemberg | Volodymyr Hrutsa ist Weihbischof der griechisch-katholischen Kirche in der Erzdiözese Lemberg. Die Kirche hat für ihn sehr viel dazu beigetragen, dass die Menschen Patrioten sind, keine Nationalisten.

Exzellenz, wie erleben Sie die aktuelle Situation in Lemberg?

Wir hatten einige Tage Ruhe, gestern gab es allerdings wieder zweimal Luftalarm. Es gibt auch weiter gefallene Soldaten, die wir beerdigen und deren Familien wir begleiten. Wenn die Toten gebracht werden, spürt man die Nähe dieses Krieges sehr genau. Die Ukraine ist wie ein einziger Körper: Wenn ein Teil blutet, dann spüren es auch die anderen Teile. Aber das Leben geht weiter. Es gibt wieder kleine Konzerte und Veranstaltungen und auch in die Kirche kommen die Menschen sehr gerne. Die Pandemie hat die Menschen isoliert. Dieser Krieg hat sie wieder zusammengeführt und solidarisiert.

Hat die Offensive der letzten Tage etwas an der Stimmung verändert?

Die Leute haben nie aufgegeben. Am Anfang sollte es ein Blitzkrieg werden; wir hätten nach drei Tagen nicht mehr existieren sollen. Jetzt sind es schon 200 Tage, die die Ukraine kämpft und überlebt. Natürlich haben die letzten Tage immer mehr Hoffnung gebracht. Es ist wie bei einer Operation: Wenn der Eingriff stattgefunden hat, weiß der Patient, dass es ihm mit jedem Tag besser gehen sollte und er hofft darauf, gesund zu werden.

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Die „Operation“ war der russische Angriff?

Ja, der Angriff und dann der Kampf ums Überleben. Jetzt merkt man, dass wir leben und die Frage ist nun, wie wir weiterleben. Die Ursache ist sozusagen das Sowjet-Virus. Dieser Krieg ist die Genesung. Es sind noch einige Generationen da, die damit infiziert wurden. Deswegen würde ich auch nicht sagen, dass wir von heute auf morgen ganz andere werden. Aber die Menschen in der Zentral- und Ostukraine werden sich immer mehr dessen bewusst, worum es eigentlich geht. Jetzt wissen sie, was „Befreiung“ (im Sinne der russischen Propaganda, d.Red.) bedeutet: Genozid, Torturen. Jemand kommt und zerstört mein Haus, die Schulen, Krankenhäuser und Bahnhöfe.

"Die Ursache ist sozusagen das Sowjet-Virus.
Dieser Krieg ist die Genesung"

Worin besteht das Sowjetvirus? In einer Ideologie, oder im Imperialismus?

Im Imperialismus. Gibt es ein Imperium, dann muss es auch Kolonien geben. Und in den Kolonien müssen dann auch Knechte sein. Die einfachen Leute haben sich (nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, d.Red.) zunächst um Essen und Trinken gesorgt. Jetzt erst ist sehr klar geworden, dass die Ukraine nie mehr irgendeine Kolonie sein wird. Das ist auch ein Verdienst der Kirche: In der Sowjetunion war unsere griechisch-katholische Kirche verfolgt, weil sie die Wahrheit gepredigt und gelehrt hat, auch weil sie immer bewusste Bürger der Gesellschaft hervorgebracht hat. Für mich ist ganz klar: Wenn ein Mensch moralisch lebt, ist er zugleich auch ein bewusster Staatsbürger und einen solchen kann man nicht manipulieren. Er kann kein Knecht mehr sein, denn er hat ja ein bürgerliches Bewusstsein und ist sich über seine Menschenwürde im Klaren.

Wenn die griechisch-katholische Kirche stark mit der ukrainischen Identität in Verbindung gebracht wird, ist das also einfach die Konsequenz daraus, dass sie die Wahrheit predigt?

Die Kirche hat sehr viel dazu beigetragen, dass die Menschen Patrioten sind. Keine Nationalisten, das ist damit nicht gemeint! Aber jeder Mensch hat das Recht, sein Erbe zu pflegen. Nach dem Ende der Sowjetunion, als die Ukraine ihre Freiheit bekommen hatte, hat sich die Kirche in diesem Sinne zu Wort gemeldet. Nach der Zeit der Treue im Untergrund ist sie zum Leben erblüht, wie auch die Ukraine insgesamt in der Unabhängigkeit eine Art Frühling erlebt hat.

In der DDR waren auch viele Widerständler in den Kirchen organisiert. Trotzdem ist nach der Wende im Osten Deutschlands der Glaube nicht aufgeblüht. Warum war das in der Ukraine anders?

Die Frage ist, was man unter Kirche versteht. Eine Institution? Natürlich gibt es das auch: die kirchliche Hierarchie, das Kirchenrecht und all diese Dinge. Viele sehen nur die Caritas, die Sozialarbeit. Sie kommen zur Kirche, weil sie denken, dass man ihnen helfen müsse. Natürlich hilft man dann, weil das auch Aufgabe der Kirche ist, aber es darf nicht vergessen werden, was ihr Kern ist: der Glaube an Gott und das Leben aus den Sakramenten. Wir müssen den Menschen eben auch beibringen, was die Kirche bedeutet und welche Schätze sie hat.

In Deutschland stehen die karitativen und politischen Aspekte gelegentlich im Vordergrund. Wenn das an der Kernaufgabe der Kirche vorbeigeht, was steht dann bei Ihrer Verkündigung im Zentrum? Drängt sich die große Politik momentan nicht geradezu auf?

Ich predige vor allem das Evangelium, die Frohe Botschaft. Da muss man sich auch nicht viel Neues ausdenken. Nehmen wir als Beispiel das Gleichnis über den Sämann – da erklärt Jesus das Gleichnis selbst. Besser als Jesus kann ich es auch nicht erklären! Ich kann höchstens sagen, womit wir die Bilder in den Evangelien in der heutigen Zeit vergleichen können. Ganz klar, auch Politik ist wichtig, die Menschen leben schließlich in einem politischen Kontext. Aber wirklich wichtig ist die individuelle Ebene: Wo schöpfe ich Hoffnung und Kraft, um weiter zu gehen? Im Evangelium gibt es das Leiden und das Kreuz genauso wie die Auferstehung. Nur ist der Mensch versucht, das Ende nicht abzuwarten. Auch mit den Menschen, die jetzt in der Ukraine sterben und ins Grab gelegt werden, stirbt Christus. Mit ihnen wird er auch auferstehen! Nur geht eben nicht alles von einem Tag auf den anderen. Unsere Sorge als Hirten muss also sein, geduldig mit den Gläubigen mitzuleiden und zu warten.

"Auch mit den Menschen, die jetzt in der Ukraine
sterben und ins Grab gelegt werden, stirbt Christus.
Mit ihnen wird er auch auferstehen!"

Wie gehen Sie konkret mit den Menschen um, die jetzt viel Leid erfahren mussten?

In Gesprächen mit solchen Menschen versuche ich, nicht viel zu sagen. Es ist wichtig, Zuhörer zu sein, weil diese Menschen viel zu sagen haben. Der Mensch kann auch sehr viel ertragen, wenn er weiß, wofür. Der Glaube, das Gebet, die Sakramente, die Solidarität, all das gibt den Menschen ein Fundament. Man darf bei Traumatisierungen auch die psychische Seite nicht unterschätzen. Vor drei Tagen haben wir in unserem diözesanen Haus der Barmherzigkeit ein Beratungszentrum eröffnet, in dem glücklicherweise alles zusammenkommt: Beratung, Psychotherapie und Seelsorge. Aber nicht jedes Problem ist ein Fall für die Psychotherapie. Hat der Mensch Schuldgefühle, dann will er Vergebung erlangen – dafür ist die Beichte da.

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Können Sie dem Krieg einen tieferen Sinn abgewinnen? Haben Sie eine Vermutung, warum Gott all das zulässt?

Wir glauben, dass nichts zufällig geschieht. Aber die göttliche Pädagogik erschließt sich erst aus der Perspektive der Geschichte. Ich glaube, in ein paar Jahren werden wir über manches wissen, warum es passiert ist. Als Jesus gekreuzigt wurde, sind die Jünger enttäuscht weggelaufen. Aber nach der Auferstehung kam er mit den Wundmalen zu ihnen und sie haben verstanden, warum alles geschehen musste. Natürlich bekommen wir einige Antworten erst in der Ewigkeit. Hier bekommen wir nach meiner persönlichen Erfahrung jedenfalls so viele Antworten, wie wir brauchen, um auf dem rechten Weg zu bleiben und zu wissen, wohin wir weiter gehen sollen.

Gibt es etwas, das Sie sich von uns Westeuropäern wünschen?

Zunächst einmal sind wir dankbar für die Solidarität. Die Ukraine versteht sich als Teil Europas, und wenn die Ukraine blutet, blutet früher oder später auch Europa. Zusätzlich ist es unser Wunsch, dass die Wahrheit anerkannt wird. Wenn jemand Zweifel hat, was die Wahrheit über diesen Krieg ist, kann er jederzeit herkommen und selbst sehen. Es ist ein Unterschied, ob man nur erzählt bekommt, was passiert, oder ob man die bedürftigen Menschen, die Kinder, die jetzt ohne Väter leben müssen und die Verletzten mit eigenen Augen sieht. Es wird uns eine große Hilfe sein, wenn Westeuropa zur Wahrheit steht, denn die Wahrheit befreit.

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