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Die EVP und Orbán im christdemokratischen Rosenkrieg

Durch den Bruch Viktor Orbáns mit der europäischen Christdemokratie verlieren beide Seiten ihr Korrektiv.
Orbán tritt aus EVP-Fraktion aus
Foto: Imago Images | Ein Bild aus besseren Tagen: Viktor Orbán und Manfred Weber 2015 in Budapest.

Noch tobt der Rosenkrieg zwischen Ungarns Regierungschef Viktor Orbán und der christdemokratischen Parteienfamilie in Europa, der Europäischen Volkspartei (EVP), der aus Deutschland CDU und CSU, aus Österreich die ÖVP angehören. Die zwölf Europaabgeordneten seiner Fidesz-Partei hat Ungarns starker Mann aus der EVP-Fraktion abgezogen. Der Austritt aus der EVP-Partei sei auch „nur noch eine technische Frage“, erklärt sein Kanzleiminister Gergely Gulyás.

Orbán kehrt der größten Fraktion des Europäischen Parlaments nicht freiwillig den Rücken, sondern um dem Rauswurf zuvorzukommen. Eine vom ÖVP-Europaabgeordneten Othmar Karas betriebene Änderung der Geschäftsordnung ermöglicht es, nicht nur einzelne Abgeordnete zu suspendieren, sondern ganze Delegationen. Das war auf die Fidesz-Gruppe gemünzt, und es wurde in Budapest auch so verstanden.

Die Beziehungskrise zog sich über Jahre hin

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Von „hastigen Verwaltungsmanövern“, die die Rechte der Abgeordneten einschränken würden, sprechen die Fidesz-Europaabgeordneten Kinga Gál und Tamás Deutsch nun. Letzterer gelangte zu fragwürdiger Berühmtheit, als er dem aus Bayern stammenden EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) Gestapo-Methoden vorwarf. Karas dagegen rechtfertigte seinen Vorschlag als „Absage an den Erpressungsversuch von Viktor Orbán“. Dass ihm dabei die übrigen ÖVP-Europaabgeordneten wie auch slowenische und kroatische Mandatare nicht folgten, dass die ÖVP-Delegationsleiterin Angelika Winzig gar von einem „Schnellschuss“ sprach, zeigt, wie umkämpft die Abgrenzung gegenüber der ungarischen Fidesz in der EVP war.

Doch der Anlass ist nicht mit den Ursachen des Bruchs zu verwechseln. Tatsächlich zog sich die Beziehungskrise zwischen Fidesz und dem Rest der EVP über Jahre hin. Dabei gab es Sprengmeister, die auf den Rauswurf Orbáns zielten, den sauberen Schnitt fordernde Puristen, aber auch um Versöhnung bemühte Brückenbauer. Zu ihnen gehörte lange Manfred Weber selbst. Noch im Europawahlkampf 2019 eilte er nach Budapest, um Orbán einzubinden, zu mäßigen, zu moderieren, zu versöhnen. Die Pendeldiplomatie zwischen den auseinanderdriftenden Lagern wurde Weber von beiden Seiten nicht gedankt. Obwohl die EVP die Europawahlen klar gewann und Weber als ihr Spitzenkandidat allen Anspruch auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten hatte, war Ungarns Regierungschef rasch mit von der Partie, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gegen den Wahlsieger intrigierte.

Der gedemütigte Weber stellte Persönliches hintan. Orbán polemisierte öffentlich gegen Weber, wie zuvor gegen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Viele in der Fraktion tobten, aber Weber versuchte, den Laden zusammenzuhalten. Noch heute weist er darauf hin, dass man mit den Fidesz-Europaabgeordneten bestens gearbeitet habe und diese bei 80 Prozent aller Abstimmungen die EVP-Linie mittrugen.

Es gibt unterschiedliche Narrative

Die Scheidung wurde in Budapest eingereicht, nicht in Brüssel. Und wie bei fast jeder Scheidung gibt es auch bei dieser nun unterschiedliche Narrative: Die Christdemokratie sei immer weiter nach links gerückt, vor allem wenn es um Ehe, Familie und Lebensschutz geht, sagen jene, die Orbán als heroischen Widerstandskämpfer gegen den Werte- und Sittenverfall schätzen. Eine Sichtweise, die Budapest wortmächtig stützt. Viktor Orbán regiere immer autokratischer, schaffe Feindbilder, spalte mit nationalpopulistischer Rhetorik sein Land und die EU, missachte Spielregeln und untergrabe die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, sagen jene, die den Bruch früher ersehnten.

Teilwahrheiten auf beiden Seiten: Nahezu in jeder Plenarwoche wirbt das Europäische Parlament für mehr LGBTI-Rechte, mindestens zweimal jährlich wird Abtreibung als Frauenrecht gepriesen – und immer stimmen weite Teile der EVP zu. Europas Christdemokraten haben den Kampf gegen die Abtreibung längst aufgegeben, haben sich mit Homo-„Ehe“ und Sterbehilfe weithin abgefunden, sind heute weltanschaulich so plural, dass Vertreter einer betont christlichen Gesellschaftspolitik am rechten Rand angesiedelt werden. Wenn Orbáns Kanzleichef Gulyás tönt, die Fidesz vertrete jene konservativen Werte und jenes christliche Familienbild, von denen viele in der EVP abgerückt seien, ist schwer zu widersprechen.

Auch Orbán wirft Fragen auf

Doch auch die nationalistischen Töne Orbáns, seine demonstrative Allergie gegen Kritik (im eigenen Land wie von außen) und der wenig transparente Umgang seiner Regierung mit EU-Fördermitteln werfen Fragen auf. Nicht seine Familienpolitik, sondern das Vorgehen gegen George Soros' in Budapest angesiedelte Universität CEU und gegen kritische Medien regten in Brüssel auf. Brückenbauer beschwichtigten, Orbán sei ein Verbal-Radikaler, der moderater handle als spreche; Kritiker warnten vor der Demontage des Rechtsstaats in Ungarn. Alle aber waren alarmiert, als Ungarns Regierungschef einer „illiberalen Demokratie“ das Wort redete.

Am Ende hat keine singuläre Frage, kein isoliertes Problem zum Bruch geführt. Man hat sich auseinandergelebt. Fortan gibt es in der EVP einen gesellschaftspolitischen Mahner weniger. Die mit 175 Abgeordneten weiterhin größte Fraktion des Europäischen Parlaments rückt damit nochmals nach links, die sogenannten „traditionellen Werte“ verlieren im Gesetzgebungsverfahren der EU nochmals an Gewicht. Umgekehrt hatte Orbán mit der Einbettung in die christdemokratische Parteienfamilie ein wichtiges Korrektiv, das ihm nun genommen ist. Schon buhlt die nationalistische ID-Fraktion, der AfD, FPÖ und die italienische Lega angehören, offen um die Fidesz-Abgeordneten. Ob sich Orbáns Zwölf ihnen oder der von der polnischen Regierungspartei PiS dominierten ECR-Fraktion anschließen: Orbán wird sich künftig jedenfalls noch nationaler und EU-kritischer positionieren. Im Kreis der Regierungschefs wohl noch härter und sturer. Es ist wie bei vielen Scheidungen: Beide Seiten haben verloren, die EVP und Viktor Orbán.

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