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Neue Jugendwertestudie: Wie lebt es sich in der "Lost"-Generation?

Sehnsucht nach Sicherheit, ein düsterer Blick in die Zukunft, Impfskepsis: Die neue Jugendwertestudie gibt Einblicke in die triste Welt der Jugendlichen.
Neue Jugendstudie
Foto: Imago Images | Jugendliche fühlen sich von Politik und Gesellschaft oft alleine gelassen.

Es ist wohl kein Zufall, dass „Lost“ zum Jugendwort des Jahres 2020 gekürt worden ist. Das grassierende Gefühl des Verloren-seins und der Unsicherheit unter Jugendlichen, das durch den Begriff zum Ausdruck kommt, bestätigen nämlich nun offiziell die Ergebnisse der brandneuen Jugendwertestudie. Das Besondere: Dieselbe Studie wurde nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland durchgeführt. Dadurch erhält man besonders gute Einblicke in Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Denkens und Fühlens der „Teens und Twens“ beider Länder. Twens, das sind im Gegensatz zu den jüngeren Teens die „Twenty somethings“, also die 20- bis 29-Jährigen.

Ein pessimistisches Bild

Insgesamt 1.000 Personen beider Altersgruppen wurden für die repräsentative Umfrage der T-Factory Trendagentur in Kooperation mit dem Institut für Jugendkulturforschung befragt. Man kann durchaus sagen, dass das Bild, welches durch die Studie zutage tritt, ein pessimistisches ist. Die Frage „Wie siehst du die Zukunft der Gesellschaft?“ haben 42 Prozent der österreichischen Jugend und 34 Prozent der deutschen Jugend mit „eher düster“ beantwortet. Lediglich 23 Prozent der Gruppe der Ersteren und 28 Prozent der Zweiteren sehen sie „eher zuversichtlich“. Das bedeutet, dass nur mehr ein Viertel der Jungen mit Zuversicht in die Zukunft des Gemeinwesens sieht. Besonders besorgt blicken die 16- bis 19-Jährigen auf das Morgen. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass Jugendliche mit höherer Bildung positiver in die Zukunft blicken als solche mit niedriger bis mittlerer Bildung.

Interessante Einblicke in die Welt der Jugendlichen liefert die Studie bei Themen wie Werte und Traditionen. Im Vergleich zum Jahr 2019 ist die Zahl der Jugendlichen, die das Leben als „Suche nach Halt“ erfahren von 69 Prozent auf 82 Prozent gestiegen. 23 Prozent der jungen Deutschen und 27 Prozent der jungen Österreicher stimmen der Aussage „Traditionen sind mir wichtig“ „voll und ganz zu“. Nur acht beziehungsweise neun Prozent meinen, Traditionen seien ihnen gar nicht von Bedeutung. Über 80 Prozent der Teens und Twens geben an, dass „alte“ Werte wie Ordnung, Sparsamkeit oder Sauberkeit eine große Rolle in ihrem Leben spielen.

Keine Re-Traditionalisierung zu erwarten

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Darf man angesichts dieses Trends auf eine Re-Traditionalisierung der Jugend hoffen? „Nein“, meint der Studien- und Projektleiter des Instituts für Jugendkulturforschung Matthias Rohrer. „Die Sehnsucht nach Struktur und Planbarkeit ist ein Zeichen dafür, dass diese fehlen. Man darf da aber keine Re-Traditionalisierung, im Sinne von ,Die Jugend will die 1950er Jahre wieder zurück? hinein lesen.“ Rohrer vergleicht das Ergebnis mit dem anderer Studien, die ergaben, dass für die Jungen Familiengründung wieder an Bedeutung gewinnt. Man müsse sich fragen, was die Jugendlichen unter „Familie“ verstehen. Der Studienleiter ist sich sicher, dass sie unter „Familie“ „nicht das klassisch-katholische Familienmodell verstehen, sondern Patchwork Modelle oder auch zwei Männer mit Kind.“

Allgemein zeige sich, dass dies, wie diese klassischen Werte gefüllt werden, modern ist. Der Begriff „Tradition“ sei mit Sicherheit und Halt verbunden. „Es bedeutet nicht, dass Jugendliche vermehrt wieder in die Kirche oder den Blasmusikverein gehen“, so Rohrer gegenüber dieser Zeitung. Ein Aspekt weist hier große Unterschiede zwischen den beiden Ländern auf. Fast 50 Prozent der Jungen „stimmt voll und ganz zu“, stolzer Österreicher zu sein. Bei den Deutschen ist das nicht so. Hier sind lediglich 30 Prozent stolz darauf, zur deutschen Nation zu gehören.

Nur ein Viertel sieht zuversichtlich in die Zukunft

Mit einem Ergebnis hat der Studienleiter nicht gerechnet. „Dass heraus kam, dass sich 40 Prozent der jungen Leute nicht impfen lassen möchte, war eine Überraschung.“ Die niedrige Impfbereitschaft ist besonders unter Jugendlichen mit mittlerer bis niedriger Bildung erschreckend hoch. Lediglich 50 Prozent der 16- bis 29-Jährigen wollen sich auf alle Fälle oder wahrscheinlich impfen lassen. Da die Umfrage Ende Februar bis Anfang März 2021 durchgeführt wurde, also vor der Debatte um den AstraZeneca Impfstoff, wird die Impf-Ablehnung jetzt wahrscheinlich noch höher sein, denkt Matthias Rohrer. Generell zeigt die Studie auf, dass das Vertrauen der Teens und Twens in das Corona-Management der Politiker gering ist. 38 Prozent der österreichischen Jugend und 30 Prozent der deutschen ist außerdem der Ansicht, dass die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie „viel zu streng“ sind. Eine der größten Ängste der jungen Leute im Zusammenhang mit Covid-19 ist, dass sie in ihrer Freizeit nicht mehr länger das machen können, was sie wollen. Das gaben 49 Prozent der Deutschen und 53 Prozent der Österreicher an. An zweiter Stelle steht die Befürchtung, dass die Bewegungs- und Reisefreiheit noch länger eingeschränkt bleiben wird. Diese ist dicht gefolgt von der Angst vor weiteren Lockdowns.

„Wir fühlen uns nicht ernst genommen von euch!“ So lautet der Appell, der durch die Daten der Studie hindurch sickert. Über 70 Prozent fühlen sich mit ihren Ängsten und Sorgen allein gelassen. „Jugendliche werden in der Corona-Pandemie als Sündenböcke hergehalten“, sagt der Studienleiter.  Entweder werden sie für erneute Ausbreitungen des Virus verantwortlich gemacht oder sie bekommen zu verstehen „eure Probleme sind keine echten“, so Rohrer.

Wie Psychotherapeuten die Ergebnisse der Studie beurteilen

Wie beurteilen Psychotherapeuten die Ergebnisse der Studie? Der Leiter des Instituts für Verhaltenssüchte der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien, Dominik Batthyány, verwundert es nicht, dass 70 Prozent der Befragten den Politikern nicht glauben, dass sie die Corona-Krise im Griff haben. „Krise bedeutet ja auch Kontrollverlust. Sie zeigt unsere Begrenztheit, sie zeigt unsere Überforderungen – auch der Politik – ganz klar auf“, sagt der Psychotherapeut im Gespräch mit der Tagespost. Der in Wien tätige Psychotherapeut Reinhard Pichler sieht als wichtigen erster Schritt mit den Jugendlichen, statt über sie zu diskutieren. „Wie die Studie zeigt, fühlen sich viele junge Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten nicht ernst genommen, was zu einem großen Vertrauensverlust führt. Es ist sehr wichtig, dass die Politik viel mehr auf die Bedürfnisse Jugendlicher eingeht, statt ihnen das Recht auf eigene Probleme abzusprechen.“, sagt Pichler.

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Emanuela Sutter

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Christoph Friedrich

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