Eine deutsche Politikerweisheit lautet: Berliner Gesetze werden in Brüssel vorgedacht. Wenn die europäische Vorlage nicht ausreicht, dann springt New York als Autorität ein, die Respekt einfordert, und der sich hiesige Politiker nicht verwehren dürfen. Die Diskussion um die Kinderrechte ist so ein Beispiel. Der deutsche Gesetzgeber sieht sich an die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention gebunden. Die Große Koalition hat sich bereits im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, in dieser Legislaturperiode Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern.
Lambrecht Staatliches Handeln muss Kinderrechte mitdenken
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) gibt sich daher pflichtschuldig. Der 14-seitige Referentenentwurf beruht auf einem Papier, das eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Ende Oktober vorgelegt hatte. 237 Seiten wiegt dieses Papiermonster. Einen Anspruch auf rechtliches Gehör sollen Kinder in Zukunft haben, so Lambrecht. Es soll festgehalten werden, dass jedes Kind „das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte“ hat. Staatliches Handeln müsse Kinderrechte mitdenken. „Sie sind keine kleinen Erwachsenen, sondern sie haben unsere besondere Berücksichtigung verdient und deswegen die Verankerung im Grundgesetz“, sagt die Ministerin.
Die Grundgesetzänderung soll den Artikel 6 um einen neuen Absatz 1a erweitern. Wörtlich lautet dieser: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“
Drei verschiedene Variationen der Grundgesetzänderung
Das Papier der Arbeitsgruppe hatte drei verschiedene Variationen der Grundgesetzänderung vorgeschlagen: einen neuen Artikel 6 Absatz 1a, einen neuer Artikel 6 Absatz 3a, oder einen neuen Artikel Absatz 4a. Während die beiden letzteren Varianten als Artikel erst nach dem Pflegerecht der Eltern (Artikel 6 Absatz 2) folgen, steht die von der Justizministerin gewählte Variante davor. Laut dem Abschlussbericht entspricht diese Variante einer „Konkretisierung“ in der Reihenfolge: Kindergrundrecht – Elternverantwortung – Wächteramt. Zitat: „Da diese drei Elemente das Dreiecksverhältnis Eltern-Kind-Staat prägen, kann die Reihenfolge im Sinne einer Konkretisierung ausgelegt werden. Stehen die Kindergrundrechte am Anfang (Absatz 1a), prägen sie die Ziele von Elternverantwortung und Wächteramt, ebenso wie heute das Kindeswohl diese Ziele prägt.“
Den Grünen, die bereits im Juni einen eigenen Gesetzesentwurf vorgelegt haben, geht der Vorstoß aber nicht weit genug. Während das Justizministerium in diesem Fall die stärkste Variante vorgezogen hat, schwächte es andererseits die Formulierung ab. Im ursprünglichen Entwurfstext der Arbeitsgruppe war noch gefordert worden, Kinderrechte „wesentlich“ zu berücksichtigen. Die „angemessene“ Berücksichtigung gilt als juristisch biegsamer. Grünenchefin Annalena Baerbock beklagte, dass es enttäuschend sei, dass „der Gesetzentwurf der Bundesjustizministerin keine echten Beteiligungsrechte vorsieht. Auch fehlt der Vorrang des Kindeswohls bei staatlichen Entscheidungen.“ Ähnlich äußerte sich das „Aktionsbündnis Kinderrechte“, dem der Kinderschutzbund und Unicef Deutschland angehören. Lambrecht spricht von einer „ausgewogenen Formulierung“, die nicht politisch geprägt sei, sondern dem juristischen Geist des Grundgesetzes entspräche.
Bedenken, Elternrechte könnten gefährdet werden
In der Abschwächung erkennen die Kritiker dagegen die Furcht vor dem Koalitionspartner. In der CDU regen sich Bedenken, Elternrechte könnten gefährdet werden. Die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, Elisabeth Winkelmeier-Becker, setzte sich für eine Ergänzung des Artikels 6 Absatz 2 ein, um Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern zu stärken. „Das austarierte System zwischen Kindern, Eltern und staatlichem Wächteramt darf nicht verschoben werden“, erklärte sie.
Die Familienrechtlerin Hedwig von Beverfoerde (Demo für Alle) kritisierte den Entwurf dagegen in aller Schärfe. „Schon der erste Satz macht klar, dass Aufwachsen und Entwicklung des Kindes innerhalb seiner Familie kein Thema mehr sind, sondern dass die Erziehung des Kindes ‚in der sozialen Gemeinschaft‘ zu erfolgen hat“, sagte sie gegenüber der Tagespost. Es handele sich um einen Paradigmenwechsel hin zum Kollektivismus, das natürliche Recht der Eltern würde „de facto außer Kraft“ gesetzt. Allein das Vorhandensein eines Sondergrundrechts würde das Dreiecksverhältnis Kinder-Staat-Eltern zuungunsten der Eltern verschieben.
Obwohl der Gesetzesentwurf vorliegt, erwarten Beobachter lange und schwierige Verhandlungen. Für eine Grundgesetzänderung sind Zwei-Drittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erforderlich.
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