Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Politik

Vor dem Shutdown

Der Streit um den § 219a nähert sich seinem Höhepunkt. Worum es der SPD dabei geht, ist weiter unklar - Eine Analyse. Von Stefan Rehder
Bundeskongresses der Jusos in Düsseldorf
Foto: dpa | Andrea Nahles trat bei dem Juso-Bundeskongress auf. Die Parteivorsitzende stellt gerne heraus, dass sie gläubige Katholikin sei. Wie denkt sie nun über die Vorstöße ihrer Genossen?

Ideologen sind Konkursverwalter des gesunden Menschenverstandes. In der SPD – so scheint es – haben sie derzeit Konjunktur. Anders lässt sich der Furor, den führende Sozialdemokraten beim Streit um das Werbeverbot für Abtreibungen an den Tag legen, nicht erklären. Nur wer vollends ignoriert, dass die Zahl der dem Statistischen Bundesamt gemeldeten Abtreibungen im vergangenen Jahr von 98 721 (2016) um 2 488 auf 101 209 stieg, kann behaupten, in Deutschland litten abtreibungswillige Frauen unter einem Informationsdefizit und hätten Schwierigkeiten, Ärzte zu finden, die noch bereit seien, vorgeburtliche Kindstötungen durchzuführen.

Gleiches gilt für die Behauptung, das Werbeverbot für Abtreibungen kriminalisiere Ärzte und sorge für Rechtsunsicherheit. Richtig ist das Gegenteil: Der § 219a sorgt für Rechtssicherheit. Er verbietet Ärzten, öffentlich anzuzeigen, dass sie vorgeburtliche Kindstötungen durchführen. Und zwar so klar, verständlich und eindeutig, dass selbst der Vorsitzende Richter am Landgericht Gießen, der öffentlich Kritik an der Rechtsnorm übte und die von der Erstinstanz zu einer Geldstrafe von 6 000 Euro verurteilte Ärztin Kristina Hänel aufforderte, das Urteil wie „einen Ehrentitel“ zu tragen, sich gezwungen sah, ihre Berufung zurückweisen und das Urteil des Amtsgericht Gießen zu bestätigen.

Mehr noch: Die Zahl der Ärzte, die wegen Verstoßes gegen das Werbeverbot vor Gericht landen, ist bislang überaus überschaubar. Die wenigen Fälle, zu denen außer Hänel auch die beiden Kasseler Frauenärztinnen Natascha Nicklaus und Nora Szász zählen, sind – glaubt man ihren Tweets in den einschlägigen Hashtags – jeweils engagierte Aktivistinnen, die die Konfrontation mit der Justiz gezielt gesucht oder zumindest dankend angenommen haben. Sollte es ferner zutreffen, dass einige Abtreibungsgegner – in Rede stehen zwei – es sich zum „Hobby“ gemacht haben, Ärzte, die Abtreibungen durchführen, bundesweit bei den zuständigen Staatsanwaltschaften anzuzeigen, kann deren „Ausbeute“ nur zweierlei bedeuten: Entweder sind diese Abtreibungsgegner ziemliche Dilettanten, oder aber es ist gar nicht leicht, wegen Verstoßes gegen den § 219a vor Gericht gestellt zu werden.

Will die SPD die Groko zerbrechen?

Im Fall Hänel ist Letzteres sogar aktenkundig. Demnach stellte die Staatsanwaltschaft Gießen 2009 ein erstes, gegen Hänel geführtes Ermittlungsverfahren wegen „Verbotsirrtums“ ein und belehrte die Ärztin über „die objektive Strafbarkeit ihres Verhaltens“. Wie das Amtsgericht Gießen in seinem Urteil vom 24.11.2017 (Az: 507 Ds 501 Js 15031/15) ausführt, warb Hänel jedoch „in Kenntnis der Strafbarkeit“ weiter „mit der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen“. Und zwar so, dass das Gericht Hänel in seinem Urteil „ein hartnäckiges Negieren der Rechtslage“ attestiert.

Weiß man all dies, gibt es für den Druck, den führende SPD-Politiker hier machen, nur drei mögliche Erklärungen. Erstens: Die SPD sucht nach einer Sollbruchstelle, die ihr den Ausstieg aus der Großen Koalition ermöglicht und glaubt, sie hier gefunden zu haben. Zweitens: Ihre Spitzenpolitiker sind frei von jeder Sachkenntnis und agieren auf Zurufe einer vermeintlichen Klientel, die sich in den sozialen Netzwerken austobt. Oder Drittens: Die SPD ist ebenso wie Linke und Grüne gewillt, den 1995 gefundenen Kompromiss aufzukündigen, mit dem vorgeburtliche Kindstötungen seitdem rechtlich geregelt werden.

Dafür spräche der Vorstoß der Jusos, dem bisher noch kein führender SPD-Politiker widersprochen hat. Die SPD-Jugendorganisation fordert, außer dem §219a auch den § 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. So erklärte ihre Stellvertretende Bundesvorsitzende Katharina Andres, „ein Schwangerschaftsabbruch“ sei „völlig legitim“. (Siehe dazu auch Seite 8) „Es ist in Ordnung zu sagen: ,Ich möchte nicht schwanger sein?“. Im Klartext heißt das: Die Jusos wollen, dass Staat und Gesellschaft vorgeburtliche Kindstötungen als legitimen Weg der Geburtenregelung betrachten. Dass es den Sozialdemokraten gar nicht um die Behebung eines vermeintlichen Informationsdefizits für abtreibungswillige Frauen geht, vermuten auch immer mehr Unionsabgeordnete. So beklagt etwa Ex-Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe: „Die Tonlage der aktuellen Debatte lässt leider oft vermissen, dass wir auch über das Lebensrecht Ungeborener reden.“

Und die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Elisabeth Winkelmeier-Becker, erklärt gegenüber der Tagespost: „Der § 219aStGB gehört zum Schutzkonzept für das ungeborene Kind. Dieser Schutz darf nicht weiter ausgehöhlt werden.“ „Als Union nehmen wir die staatliche Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Kind ernst. Dieser Gedanke spielt bei der Linken und den Grünen, aber auch bei der SPD anscheinend keine Rolle mehr. Wenn das Bewusstsein dafür verloren geht, dass es von Anfang an um das Lebensrecht eines ungeborenen Kindes geht, gibt es keine zweite Haltelinie. Das zeigt auch der unsägliche Beschluss der Jusos, die Abtreibungen ohne Frist, das heißt letztendlich bis zur Geburt okay finden.“

Man darf gespannt sein, wie nun Streit über den Paragraphen weitergeht.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe

Themen & Autoren
Stefan Rehder Abtreibungsgegner CDU/CSU-Bundestagsfraktion Elisabeth Winkelmeier-Becker Hermann Gröhe Jungsozialisten Lebensrechtsbewegung SPD Sozialdemokraten

Weitere Artikel

Angesichts der angespannten Lage kriegt Olaf Scholz beim SPD-Parteitag ganz gut die Kurve.
10.12.2023, 14 Uhr
Sebastian Sasse

Kirche

In der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) ist ein Streit um das Pfarramt für Frauen entbrannt. Im äußersten Fall droht die Spaltung.
22.04.2024, 16 Uhr
Vorabmeldung
Der von Papst Paul VI. eingeführte Weltgebetstag um geistliche Berufungen hat nichts von seiner Dringlichkeit verloren, schreibt Markus Hofmann.
20.04.2024, 19 Uhr
Markus Hofmann
Mit Hinweis auf den Papst, erklärte der Görlitzer Bischof Vertretern der Evangelischen Kirche, dass der Heilige Geist Protagonist einer Synode sein müsse. 
20.04.2024, 16 Uhr
Meldung