Mit Entsetzen hat der katholische Rechtswissenschaftler Robert George auf die gewaltsamen Ausschreitungen bei einer Demonstration von Anhängern des scheidenden US-Präsidenten Donald Trump am US-Kapitol in Washington reagiert. Die Angreifer hätten versucht, den „verfassungsrechtlich verbrieften Prozess“ zur Auszählung der Wahlmännerstimmen zu stören. „Man liegt nicht falsch, wenn man dies als Angriff auf unser Verfassungssystem charakterisiert“, erklärte der bekannte katholische Intellektuelle in einem Gespräch mit dem „National Catholic Register“.
Trump gesteht Wahlniederlage ein
Auch wenn man unterschiedlicher Meinung darüber sei, wer zum Präsidenten hätte gewählt werden sollen oder ob es bei der Präsidentschaftswahl möglicherweise großflächiges Fehlverhalten oder sogar Betrug gegeben habe, müsse man anerkennen: „Wir haben in diesem Land Verfahren, mithilfe rechtlicher oder anderer Maßnahmen Streitfälle zu lösen, auch über den Ausgang von Wahlen.“ Diese Verfahren müsse man anwenden, so George, man dürfe jedoch nicht das Recht selbst in die Hand nehmen oder sich an gewaltsamen Aktionen betätigen.
Während am Mittwoch die Kongressabgeordneten von Senat und Repräsentantenhaus im Kapitol in Washington zusammentrafen, um die Wahlmännerstimmen der einzelnen Bundesstaaten zu zertifizieren, stürmten Randalierer bei einer Demonstration des Pro-Trump-Lagers das Kongressgebäude. Die Abgeordneten unterbrachen ihre Sitzungen, Polizei und Nationalgarde mussten das Gelände räumen. Mindestens fünf Menschen kamen dabei ums Leben.
US-Präsident Trump hat sich inzwischen von den gewaltsamen Demonstranten distanziert. In einer Videobotschaft gestand er seine Wahlniederlage ein und kündigte an, eine friedliche Amtsübergabe an seinen demokratischen Nachfolger Joe Biden zu gewährleisten. Zuvor hatte der Kongress den Sieg Bidens bereits zertifiziert.
Seit Monaten immer mehr Gewalttaten
Im Gespräch mit dem „National Catholic Register“ wies George, der eine Rechtsprofessur an der Universität Princeton innehat, darauf hin, dass man die jüngsten Ereignisse in Washington auch im Kontext einer Reihe gewaltsamer Ausschreitungen sehen müsse, die das Land in den vergangenen Monaten erlebt habe. Als Beispiele nannte George Vorfälle in Städten wie Seattle, Portland oder Kenosha. Man könne daher nicht behaupten, dass „diese Sünde gegen das Gesetz“, die in Washington begangen worden sei, einzigartig wäre. „Menschen mit ganz unterschiedlichen ideologischen Prägungen begehen seit Monaten Gewalttaten“, betonte George.
Darüber hinaus nannte George auch die „extreme Polarisierung“ auf parteipolitischer wie auch auf ideologischer Ebene als Grund für die Ausschreitungen. Republikaner und Demokraten bzw. Progressive und Konservative würden sich häufig nicht mehr gegenseitig als Mitbürger betrachten, mit denen man zwar nicht einer Meinung sei, deren politische Einstellung man für falsch halte, die man aber dennoch achte und respektiere. „Wir sind jetzt in einer Situation, in der Republikaner und Demokraten, Progressive und Konservative, sich gegenseitig als Feinde betrachten, die man besiegen muss“, so George.
Jeder ein Mitbürger guten Willens
Für die Zukunft sei es nach Ansicht Georges notwendig, dass man über das ideologische Spektrum und die parteipolitische Spaltung hinweg das Verständnis wiedergewinne, dass auch Bürger, mit denen man nicht einer Meinung sei, in den meisten Fällen guten Willens seien. Menschen seien fehlbar, so George. Auch wenn man der Ansicht sei, der andere liege komplett falsch in Fragen der Gerechtigkeit, der Menschenrechte oder dem Allgemeinwohl, so könne man ihn immer noch als vernünftigen Mitmenschen und Mitbürger betrachten. DT/mlu
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.