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Steven Pinker über den „Wokismus“: „Dieser universitäre Irrsinn geht uns alle an“

Im Magazin L’Express erläutert der liberale Kognitionswissenschaftler Steven Pinker, warum der Antirassismus zu einer Religion geworden sei. Er erklärt seine Kritik an der „woke“-Bewegung und den identitären Theorien, die in den Vereinigten Staaten derzeit Furore machen. 
Steven Pinker,  Kommunikationswissenschaftler
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Der Kommunikationswissenschaftler Steven Pinker kritisiert im Gespräch mit L’Express die „woke Orthodoxie“.

Der Professor am Harvard College Steven Pinker ist einer der weltweit einflussreichsten Intellektuellen, wie das Politikmagazin L’Express anlässlich seines Interviews mit dem 66-Jährigen feststellt. Pinker kritisiert in dem Gespräch das, was er als „woke Orthodoxie“ bezeichnet, die von den Theorien über Gender, Rasse oder Kolonialismus geprägt sind. Er sagt: „Weil diese woke Orthodoxie schlimmstenfalls Anleihen an der Apartheid und am Nazismus macht. Man findet hier diese Vorstellung, dass jeder von uns einer Gruppe angehört, die durch ihr Gender, ihre Rasse oder ihre Ethnie definiert ist, und dass unsere Meinungen je nach der Gruppe, der man angehört, vorhergesagt werden kann “.

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Verdrehung der Wirklichkeit

Diese Ideen hätten bereits der Rassentrennung in den amerikanischen Südstaaten zugrunde gelegen. Besonders ironisch sei, „dass ein Denken, das für sich ‚soziale Gerechtigkeit‘ in Anspruch nimmt, auf dem Konzept beruhen könne, dass eine Gesellschaft eher aus ethnischen Gruppen als aus den Individuen selbst aufgebaut sei. Das läuft dem vor allem von Martin Luther King verteidigten Ideal, demzufolge man in einer gerechten Gesellschaft beurteilt wird nach dem, was man als Person ist, und nicht nach seiner Hautfarbe“. Die kritische Rassentheorie wende damit Martin Luther King den Rücken zu und gehe sogar soweit, „ihn als Rassisten zu behandeln“.

Eine regelrechte Religion

Pinker meint zudem wie der schwarze Linguist John McWorther, dass der woke Antirassismus zu einer regelrechten Religion mit einem sehr starken Moralismus geworden sei. Es handele sich um eine Bewegung, so Pinker, „die weder auf Fakten noch auf der Wissenschaft basiert“. Es werde sogar nicht gerne gesehen, hinter diesem Glauben in empirischen Beweisen nach Antworten zu suchen. „Wenn man an dieser kritischen Rassentheorie zweifelt, dann liege das daran, dass man Häretiker oder Blasphemiker ist. Wie in jeder Religion wird die öffentliche Bekanntmachung Ihrer Glaubensüberzeugungen zu einem Beweis für Ihre gute Moral. Und diese Bewegung hat darüber hinaus ihre Märtyrer. George Floyd wird daher als Heiliger, der ermordet wurde, charakterisiert“.

Rassismus auf dem Rückzug

Dabei sei der Rassismus in den Vereinigten Staaten schon seit vielen Jahren auf dem Rückzug: „Selbst während der Amtszeit von Trump ist der Rassismus kontinuierlich gesunken!“ Seit etwa 15 Jahren gingen rassistische Vorurteile in der ganzen Welt zurück. Die kritische Rassentheorie habe bei ihrer Argumentation jedoch, so Pinker, „reaktionäre“ Denkmuster übernommen, wenn sie davon ausgehe, „dass es unmöglich sei, die Leute dazu anzuspornen, ihre Vorurteile selbst zu besiegen. Wenn man diese bekämpfen wolle, müsse man daher Macht ausüben, die Rassisten bestrafen und die Unterdrückten befreien. Und das ist dann für die Demokratie, die Meinungsfreiheit oder die individuellen Freiheiten eben dumm gelaufen“.

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Keine Verbesserung durch "woke"

Pinker zufolge trage die woke Bewegung im Endeffekt nicht dazu bei, das Leben der Menschen zu verbessern, die sie verteidigt. Darin liege sogar „das größte Problem“: Anstatt „wirklich das Leben der Afroamerikaner oder anderer Minderheiten zu verbessern, zerstört man lieber Denkmäler und lässt Menschen rausschmeißen, deren Meinungen man nicht schätzt“. In Bezug auf die Cancel Culture konstatiert Pinker, es gebe ganz deutlich ein Problem der „intellektuellen Unterdrückung. Im Hinblick auf die Themen Gender und Rasse meine ich, dass man sich die Daten anschauen muss und keine von der Ideologie vorgefertigten Vorstellungen haben darf. Wenn das als Verbrechen betrachtet wird, dann ist das für die Gesamtheit der akademischen Welt eine garantierte Katastrophe!

Cancel Culture beschädigt Vertrauen

Denn unser Naturzustand ist die Unwissenheit. Nur indem man etwas mit einem Geist, der verschiedenen Hypothesen gegenüber offen ist, studiert, können wir vorankommen“. Doch die „Cancel Culture“ beschädige auch „das ganze Vertrauen in das universitäre Ökosystem. Der einzige Grund für eine Gesellschaft, die Universitäten aufrechtzuerhalten und zu finanzieren, besteht darin, dass diese dank einer Gruppe von Fachleuten Wissen sammeln, Ideen auf den Prüfstand stellen und Wahrheiten herausfinden. Doch wenn man meint, dass es dort nur Sektierer gibt, dann wird die akademische Welt in den Augen der Gesellschaft wie der Regierung jegliche Glaubwürdigkeit verlieren“. 

Der heutige „universitäre Irrsinn“, der von der woke Bewegung geprägt ist, gehe uns alle an, ist Pinker daher überzeugt. DT/ks

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