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Ist die "Black-Lives-Matter"-Bewegung antisemitisch?

Die "Black-Lives-Matter"-Bewegung steht in der Kritik: Sie soll antisemitische Züge aufweisen. Doch eine kritische Auseinandersetzung mit der Bewegung ist nicht gern gesehen.
Martin Luther King Day in den USA
Foto: Elaine Thompson (AP) | Am Martin Luther King-Gedenkmarsch im Januar in Seattle nahmen in diesem Jahr auch Vertreter von BLM teil.

Sich für POCs, also "People of Color" einsetzen und gleichzeitig Juden hassen? Ist das vorstellbar? Anders als in Deutschland wird etwa in englisch- und französischsprachigen Medien zunehmend Kritik an der „Black Lives Matter“-Bewegung (BLM) laut. Nämlich an deren antisemitischen Zügen. In deutschen Medien dagegen ist von Kritik bislang wenig zu lesen. BLM wurde 2013 von drei schwarzen Aktivistinnen gegründet. Auslöser ihres Protests war der Freispruch eines Nachbarschaftswächters, der einen unbewaffneten schwarzen Jugendlichen erschoss. 2020 wurde die Bewegung nach dem Tod von George Floyd weltweit bekannt und populär.

„Wenn auf Demonstrationen von Black Lives Matter Plakate hochgehalten werden: Wer ist jetzt der Terrorist? Und dann wird Israel gezeigt oder der Davidstern, wie es in Paris der Fall war. Wenn skandiert wird: Israel der Völkermörder oder Israel der Kindermörder, dann ist das Black Lives Matter zuzuschreiben. Denn die Organisation hat sich nie davon distanziert“, sagt Theologe Kai Funkschmidt, Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin.

Oft geht es um Propaganda

In Paris etwa erscholl der Slogan „Palestinian Lives Matter“. Zahlreiche Stimmen innerhalb von BLM sehen Parallelen zwischen den „Lynchings“ der amerikanischen Polizei an Schwarzen und Israels Behandlung der Palästinenser, die sie als Völkermord bezeichnen. Demonstranten schwenkten Fahnen mit der Aufschrift „Israel. Laboratorium für Polizeigewalt“. Kniegelenk ins Genick wie bei George Floyd. Dass die US-amerikanische Polizei ihr Handwerk von Israel lernt, werde immer wieder in BLM-Kreisen kolportiert, sagt Funkschmidt. Nur auf den Black Live Matters-Demonstrationen gehe es gar nicht um die sachgerechte Darstellung von Polizeiarbeit, sondern um Propaganda. Es sei im Grunde das klassische antisemitisches Narrativ: So wie die amerikanische Polizei einen Genozid an den Schwarzen versucht, versuchten die Israelis einen Genozid an den Palästinensern, erklärt Funkschmidt.

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Das beobachtet so ähnlich auch Dov Wilker, Direktor des American Jewish Committee AJC in der Atlanta Region. „Wenn BLM sagt, die Polizeigewalt gegen Schwarze höre auf, wenn der Austausch mit Israel nicht mehr stattfände, dann ist das falsch“, sagt Wilker.

Dass immer wieder das Narrativ auftaucht, die US-amerikanische Polizei würde ihr grausames Handwerk gegen Schwarze gerade von Israel lernen, macht den jüdisch-amerikanischen Historiker Gil Troy geradezu wütend. „Die große Lüge dahinter ist die Behauptung, dass die Schuld am Rassismus in der US-amerikanischen Polizei bei den Juden liegt. Das Knien auf dem Nacken wie bei George Floyd ist keine Technik der israelischen Polizei. Es ist eine große Lüge. Es ist ekelhaft. Wir nennen das Judenhass oder Antisemitismus“, ereifert sich Troy.

Zudem sei es nicht einmal erwiesen, dass es einen besonderen Polizeirassismus gegen Schwarze gebe. Zahlreiche Studien staatlicher und universitärer Einrichtungen seit den 1970er Jahren widersprechen der Aussage, die Polizei töte verhältnismäßig mehr Schwarze als Angehörige anderer Gruppen. Lois James von der Universität Washington etwa zeigte in mehreren realitätsnahen Versuchsreihen, dass Polizisten beim Schusswaffeneinsatz gegen Schwarze und Latinos sogar deutlich zögerlicher seien als gegen Weiße. Sie erklärt das mit „reverse racism“, also der verinnerlichten Sorge der Polizisten, Rassismusvorwürfen ausgesetzt zu sein.

Kritische Auseinandersetzung scheint verpönt

Solch kritische Auseinandersetzung mit BLM scheint aber verpönt. Black Lives Matter ist populär. So forderten etwa im Juni 2020 auch die katholischen US-Bischöfe Reformen, um Rassismus und Polizeigewalt einzudämmen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den antisemitischen Auswüchsen von Black Lives Matter war von katholischer Seite dagegen kaum zu vernehmen. Dabei hat es nicht nur in Europa, sondern auch in den USA bei Black-lives-Matter-Demonstrationen Übergriffe auf Juden und jüdische Institutionen gegeben. „Es ist herzzerreißend. So viele Juden und Rabbiner unterstützen BLM. Wir sahen in Los Angeles eine Zunahme von Gewalt gegen jüdische Geschäfte in jüdischen Vierteln. Wir sahen antijüdische Graffitis und Hakenkreuze. War es ein allgemeines Phänomen? Nein! Aber dafür müssen wir Null-Toleranz haben. Es ist furchtbar, wenn Menschen die Bewegung für antisemitischen Hass benutzen“, zeigt sich Troy bis heute entsetzt.

In Los Angeles wurde die Statue des schwedischen Judenretters während der NS-Zeit, Raoul Wallenberg, geschändet. Mehrere Synagogen wurden mit „Free Palestine! Fuck Israel!“ besprüht. Bei Demonstrationen in Washington mischten sich Hasschöre gegen Israel, das „Kinder ermordet“, mit den BLM-Parolen. In San Diego wurden jüdische Einrichtungen wie das Haus der Studentenorganisation Hillel angegriffen.

Antisemitismus wird in den USA wieder salonfähig

Die antijüdischen Exzesse kommen aber nicht von ungefähr und sind kaum Zufall. Der Antisemitismus entwickelt sich schon länger in den USA. Denn einerseits gab es seit den 1960er Jahren eine enge Verbindung der amerikanischen Juden zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King. Gleichzeitig formulierten schwarze Intellektuelle wie James Baldwin ihren Hass auf die vermeintlich weißen Juden. So schrieb er, dass „der Jude“ seine Holocaust-Geschichte und seine Unterdrückungsgeschichte missbrauche, um sich selbst als unterdrücktes Opfer darzustellen. Das sei aber gelogen. Viel schlimmer als die Unterdrückung der Juden sei die Unterdrückung der Schwarzen. Und „der Jude“ sei in „unseren schwarzen Ghettos“ das ausführende Organ der Weißen, weil er die Miete eintreibe oder gleich selbst Hausbesitzer sei. –  „Der Jude“ als gnadenloser Mieteintreiber und skrupelloser Geschäftsmann, ein klassisches antisemitisches Narrativ. James Baldwin ist heute in den USA Schullektüre.

Dagegen müsse man sich gesamtgesellschaftlich wehren, sagt Dov Wilker vom American Jewish Committee. Die Einteilung in schwarz und weiß sei zudem völlig unsinnig. Denn es gebe weltweit viele Juden, die gar nicht weiß seien: „Über 50 Prozent der Juden in der ganzen Welt stammen nicht aus Europa oder Ost-Europa. Aber viele glauben, dass alle Juden weiß und Teil der weißen Überlegenheit sind. Viele verstehen nicht, dass Juden diskriminiert wurden und werden und stellen sie mit den Unterdrückern gleich. Der Antisemitismus hat nicht nur bis heute überlebt, sondern wird immer stärker.“ Die Einteilung in schwarz und weiß sei aber auch keine Frage der Hautfarbe, sondern der politischen Definition. Jeder sei automatisch weiß, selbst bei schwarzer Hautfarbe, wenn er nicht den Aussagen der BLM-Aktivisten zustimme. So kritisierte zum Beispiel die Journalistin und BLM-Unterstützerin Nadine Batcheler-Hunt als schwarze jüdische Frau einen antisemitischen Tweet der britischen BLM-Bewegung. Daraufhin wurde sie als „weiße zionistische Hure“ beschimpft.

„Black Lives Matter hat im Grunde so eine manichäische kulturmarxistische Weltsicht. Es gibt Unterdrücker und Unterdrückte als Grundnarrativ der gesamten Menschheitsgeschichte. Und das wird dann rassisiert. Es gibt eine Unterdrückungsrasse, das sind die Weißen. Und es gibt die Unterdrückten, das sind die Schwarzen. Und dann sind die Juden plötzlich in erster Linie Weiße. Und dann werden sie ausgesondert für einen besonderen Hass innerhalb der Weißen“, analysiert Kai Funkschmidt.

Aber es gibt kein Copyright auf BLM und jeder kann sich zum Wortführer der Bewegung machen, die dezentral organisiert ist. Funkschmidt selbst gibt zu, dass Judenhass nur in bestimmten BLM-Gruppen vernehmbar sei und sich nur punktuell aggressiv äußere. Sind da die antisemitischen Nebentöne nicht doch verkraftbar? Genau solche Reaktionen erhält Kai Funkschmidt immer wieder auf seine Artikel. Und genau dagegen gilt es sich zu verwahren: „Du ziehst Black Live Matter in den Schmutz, indem Du auf diesen Nebenaspekt hinweist. Das Grundanliegen ist doch positiv. Ich aber sage: Es gibt keinen nebensächlichen Antisemitismus! Ich betrachte Antisemitismus nie als nebensächlich. Es gibt immer das Potenzial, dass sich das verselbstständigt und größer wird!

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