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Rechtsruck in Österreich?

Das Wort vom „Rechtsruck“ macht die Runde, in Österreich und darüber hinaus. Von Stephan Baier
Stephan Baier.
Foto: DT | Stephan Baier.

Ja, da ist etwas in Bewegung geraten im erstarrten, etwas gemütlichen und etwas behäbigen Österreich. Sebastian Kurz triumphierte, weil er (trotz Regierungszugehörigkeit seit 2011) die Sehnsucht nach Veränderung verkörperte. Christian Kern verlor, weil er (obwohl erst seit 17 Monaten in der Politik) dies nicht schaffte. Ja, es ging ein Ruck durch Österreich, nicht erst am Wahltag, sondern in den vergangenen Jahren: 2012 feierten die Österreicher stolz, dass sie (anders als Deutschland) ein in 100 Jahren bewährtes Islamgesetz haben; 2017 ist die Angst vor dem politischen Islam lagerübergreifender Konsens. 2015 waren die Österreicher stolz auf ihre Willkommenskultur und die offenen Grenzen; 2017 stritten die Parteien, wessen historisches Verdienst die Schließung der Balkanroute und die verschärften Grenzkontrollen sind.

Die politische Lage Österreichs und Europas hat sich in den vergangenen zwei Jahren verändert, und mit ihr die Stimmungslage. Österreich wäre gerne eine Insel der Seligen, und sieht sich doch bedroht. Die Mischung aus nationalem und sozialem Populismus, die der FPÖ zu Erfolgen verholfen hat, ist eine Reaktion auf solche Ängste. Muss sich Europa nun vor einer recht wahrscheinlichen FPÖ-Regierungsbeteiligung fürchten? SPÖ, Grüne und Neos suggerieren dies, wenn sie den „Rechtsruck“ bejammern und vor der „Orbanisierung Österreichs“ warnen. Die Grünen, denen die Wähler in Scharen davonliefen, sind auf dem hohen Ross derzeit eher falsch platziert. Und die SPÖ muss sich fragen, was sie im zurückliegenden Jahrzehnt steter Kanzlerschaft getan hat, um den Österreichern die Ängste vor Wohlstands- und Identitätsverlust zu nehmen. Den sozialpopulistischen Wettlauf mit der FPÖ hat die SPÖ jedenfalls mehrfach gewagt, aber letztlich nicht gewonnen.

Rechtsruck also? Wenn eine stärkere Besinnung auf die eigene Identität und eigene Interessen, ein kritischerer Blick auf Fremdes und die Fremden, ein wacheres Auge für Mängel in der Integration und Entwicklungen der Migration „rechts“ sind, dann zweifellos. Straches insistentes Plädoyer für mehr „direkte Demokratie“ dagegen hat Kurz nicht einmal mit einem Vielleicht gewürdigt. Und in der Europa-Politik hat die FPÖ längst den einstigen Schützengraben geräumt: Wolfgang Schüssel koalierte einst mit Jörg Haiders FPÖ, die mit dem EU-Austritt Österreichs flirtete, gegen den Euro und gegen die EU-Osterweiterung auftrat. Schüssels Koalitionsbedingung war Haiders Unterwerfung unter die europapolitische Linie der ÖVP. Heute gibt sich FPÖ-Chef Strache als proeuropäischer EU-Kritiker, der auf Subsidiarität und Reform der EU setzt, aber weder den Austritt aus der EU noch aus dem Euro wünscht. Und ganz in Schüssels Tradition erteilte Sebastian Kurz ihm bereits im Wahlkampf Lektionen: Er brauche herzeigbare Partner in Europa (statt AfD, Le Pen und Wilders), denn nur mit einem guten europäischen Netzwerk könne eine österreichische Regierung in Europa erfolgreich sein. Offensichtlich hat Sebastian Kurz keinerlei Ambition, sich innerhalb der EU isolieren zu lassen. Er will keine „Orbanisierung Österreichs“, sondern als österreichischer Kanzler zu einer effizienten Reformkraft im vereinten Europa werden. Ob er Strache dafür gewinnen kann, werden die Regierungsverhandlungen zeigen.

 

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