Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung KARLSRUHE/FRANKFURT

Kommentar um "5 vor12": Psychologisch gefährlich

Das Karlsruher Urteil zu den EZB-Anleihekäufen ist fragwürdig und kommt zur Unzeit.
Kritik am Urteil zum Sterbehilfe-Verbot
Foto: Uli Deck (dpa) | Urteile des Bundesverfassungsgericht kann man nicht in zehn Zeilen erklären, doch nein, Karlsruhe hat die EZB-Anleihekäufe nicht verboten.

Urteile des Bundesverfassungsgerichts in zehn Zeilen zu erklären, fällt Journalisten nicht minder schwer als Juristen. Darum zunächst: Nein, Karlsruhe hat die EZB-Anleihekäufe nicht verboten, die EU-Kommission nicht entmachtet und Beschlüssel von EU-Gipfeln nicht aufgehoben. All das geht nämlich gar nicht. Das deutsche Höchstgericht bindet deutsche Institutionen gemäß deutschem Recht. Mehr nicht.

Ein irritierendes Urteil

Lesen Sie auch:

Dennoch ist das gestrige Urteil „irritierend“, wie Andreas Voßkuhle, der Präsident des Gerichts, richtig erkannte. Denn erstens setzen sich die Richter dem Verdacht aus, Politik zu machen: Es war ja eine politische Entscheidung, die ökonomische, politische und letztlich gesellschaftliche Stabilität der Euro-Zone um jeden Preis („whatever it takes“) zu verteidigen. Ob das Mandat der Europäischen Zentralbank (EZB) damit weit interpretiert oder überdehnt wurde, ist ebenfalls mehr eine politische denn juristische Frage. In einer wankenden Wirtschaft könnte die EZB ihren Kernauftrag, Preisstabilität im Euroraum zu gewährleisten und so die Kaufkraft der gemeinsamen Währung zu erhalten, jedenfalls nicht erfüllen.

Zweitens stärkt das Karlsruher Urteil den alten, schier unausrottbaren Verdacht, die ganze Euro-Zone, ja die ganze EU habe im Zweifelsfall nach der deutschen Pfeife zu tanzen. Wenn Karlsruhe der Bundesbank (nach drei Monaten) tatsächlich den Vollzug der vor Jahren getroffenen Beschlüsse verbietet, werden die Partner in Europa das als Sabotage gemeinsamer Entscheidungen empfinden.

Karlsruher Urteil destabilisiert Vertrauen

Drittens untergräbt das Karlsruher Urteil zu den alten Anleihekäufen (2015 bis 2018) die psychologische Wirkung der heute geplanten, 750 Milliarden Euro schweren Anleihekäufe im Zuge der Corona-Krise: Wirtschaft beruht nun einmal zu einem Gutteil auf Psychologie. Die Stabilität von Währungen und Volkswirtschaften hängt auch davon ab, dass alle daran glauben. Wenn nun ein einziges nationales Höchstgericht die gemeinsamen finanzpolitischen Maßnahmen von EU und EZB ins Wanken bringen kann, wer vertraut dann noch darauf, dass die Corona-Rettungsmaßnahmen der EU tatsächlich kommen? Das Karlsruher Urteil destabilisiert damit in wirtschaftlich fragilen Zeiten das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der Euro-Zone. Juristisch mag das Urteil nur spitzfindig sein. Psychologisch ist es brandgefährlich.

 

 

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe

Themen & Autoren
Stephan Baier

Weitere Artikel

Im Einsatz in der vierten Welle: Der bayerische Landesgeschäftsführer der Malteser warnt in einem Gastbeitrag davor, dass dem Rettungsdienst angesichts der Corona-Zahlen bald eine ernsthafte ...
30.11.2021, 09 Uhr
Christoph Friedrich

Kirche

Die deutschen Bischöfe werden beim Synodalen Ausschuss wohl keine kirchenrechtskonforme Lösung finden. Das Mehrheitsprinzip eröffnet einen rechtsfreien Raum.
25.04.2024, 11 Uhr
Regina Einig