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Kommentar um „5 vor 12“: Pro Choice wackelt

Der US-Supreme Court hat die Novelle des Abtreibungsrechts des US-Bundesstaats Louisiana verworfen – Warum das kein Sieg des Pro Choice-Lagers ist und „Roe vs. Wade“ dennoch bald Geschichte sein könnte.
Abtreibung: US-Lebensschützer wollen neues Grundsatzurteil
Foto: Shawn Thew (EPA) | Der US-Supreme-Court könnte bald wieder ein Grundsatzurteil über Abtreibung fällen. Hier zu sehen Pro-Life-Befürworter bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude.

In den USA dürfen Lebensrechtler weiter von einer Rücknahme des Urteils „Roe versus Wade“ aus dem Jahr 1973 träumen. Denn das Urteil, mit dem der Oberste Gerichtshof am Montag die restriktive Novelle der Abtreibungsgesetzgebung im US-Bundesstaat Louisiana knapp, mit fünf zu vier Stimmen für verfassungswidrig verwarf, ist nur auf den ersten Blick ein Sieg des Pro-Choice-Lagers.

Das Gesetz sah vor, dass in Louisiana Abtreibungen nur noch in solchen Praxen durchgeführt werden dürfen, die sich im Radius eines Krankenhauses befindet, der 50 Kilometer nicht überschreitet. Der Grund: Im Falle einer Komplikation müsse die Schwangere dorthin verlegt werden können.

Kein Anlass für Champagnerlaune

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Was im Pro-Choice-Lager reflexhaft als hinterlistige Fußangel ausgegeben wird, mit der Abtreibungsgegner Schwangeren vorgeburtliche Kindstötungen massiv zu erschweren suchten, hat einen sehr realen und ernsten Hintergrund: 2013 wurde in Philadelphia (US-Bundesstaat Pennsylvania) der Abtreibungsarzt Kermit Gosnell wegen vorsätzlichen Mordes an drei Babys, die ihre Spätabtreibungen überlebt hatten, sowie der fahrlässigen Tötung einer Patientin zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die 41-Jährige war an einer Überdosis Betäubungsmittel gestorben, unter anderem weil sich Gosnell zu lange geweigert haben soll, Hilfe aus einem der umliegenden Krankenhäuser anzufordern.

Das daraufhin 2014 in Louisiana verabschiedete Gesetz wurde von Pro Choice-Anhängern solange blockiert, bis es Anfang vergangenen Jahres vor dem Obersten Gerichtshof landete. Auch dort argumentierten seine Gegner, träte es in Kraft, dürften in dem 4,6 Millionen Einwohnern zählenden Bundesstaat überhaupt nur noch an einem einzigen Standort Abtreibungen vorgenommen werden. Liest man die Voten der Richter vor diesem Hintergrund, wird schnell klar: Für Champagnerlaune gibt es im Pro Choice-Lager überhaupt keinen Grund.

Chief Justice John Roberts: Das Zünglein an der Waage

Nicht nur, weil die von US-Präsident Donald Trump ernannten Richter Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh wie Clarence Thomas und Samuel Alito für das Gesetz stimmten. Sondern auch, weil der Vorsitzende Richter John Roberts, eben nicht – anders, als hierzulande vielfach kolportiert –, mit den liberalen Richtern stimmte, sondern ein Sondervotum abgab. 2016 hatte Roberts in einem ähnlich gelagerten Fall für ein Gesetz des US-Bundesstaat Texas gestimmt, das die Zahl derAbtreibungskliniken auf dessen Territorium halbiert hätte. Das Gesetz war jedoch von der damals liberalen Richtermehrheit verworfen worden. Roberts hält diese Entscheidung nach wie vor für falsch, fühlt sich aber auch an sie gebunden. Als erklärter Verfechter des unter Juristen durchaus umstrittenen Grundsatzes der „stare decisis“ (dt.: starren Entscheidungen), ist der Vorsitzende Richter der Meinung, der Supreme Court müsse sich solange an früheren Entscheidungen orientieren, bis „spezielle Umstände“ ein anderslautendes Urteil erlaubten. Dass Roberts diese in Louisiana nicht für gegeben hielt, heißt nicht, dass er in das Pro Choice-Lager gewechselt wäre.

In Wahrheit weist das Urteil der Pro-Life Bewegung geradezu den Weg. Gelingt es ihr, den Chief Justice von den „speziellen Umständen“ einer der zahlreichen bundesstaatlichen Abtreibungsnovellen zu überzeugen, die sich derzeit ihren Weg durch die Instanzen bahnen, könnte „Roe versus Wade“ schon bald Geschichte sein.

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