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Kommentar um "5 vor 12": Mitschwimmen im utilitaristischen Strom?

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble will den "Schutz des Lebens" in der Corona-Krise nicht absolut setzen. Aber kann man den Lebensschutz und die Würde des Menschen tatsächlich voneinander trennen?
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble leitet die Sitzung bei der Regierungsbefragung
Foto: Michael Kappeler (dpa) | "Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen", so Schäuble.

Trotz gewisser Lockerungen: Deutschland ist weiter im Corona-Quarantäne-Modus. Für sehr viele Bürger ist das eine große Belastung. Zumal die Zahl der Corona-Toten zwar niedriger als in anderen Ländern, aber im Steigen begriffen ist. Nun hat sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in einem "Tagesspiegel"-Interview zur aktuellen Lage geäußert. Klug und bedächtig, sachlich abwägend. Wie man es von ihm kennt. Schließlich weiß der 77-Jährige Christ und Vollblut-Politiker, dass ein striktes Runterfahren der Wirtschaft wenn überhaupt, nur einen gewissen Zeitraum möglich ist.

Schäubles Aussagen zum Lebensschutz sind erstaunlich

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Erstaunlich sind aber Schäubles Aussagen zum Lebensschutz. So sagt er: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

Kann man den Lebensschutz und die Würde des Menschen tatsächlich voneinander trennen? Erfüllt sich diese Würde nicht erst im Schutz des Lebens? Gerade jetzt in dieser konkreten Katastrophen-Situation? Schließlich sind, das lässt sich unter anderem in der Enzyklika „Evangelium vitae“ von Johannes Paul II. nachlesen, Lebensschutz und Menschenwürde niemals abstrakt. Dabei geht auch das sarkastisch eingespeiste memento mori ins Leere. Schäuble hätte als Innenminister doch auch nicht die Verkehrsregeln oder die Sorgfaltsregeln in der Lebensmittelproduktion aufgehoben mit dem Argument, dass wir eh sterben (müssen).  

Menschliche Würde als Deckmantel für wirtschaftliche Lockerungen?

Schäuble jedoch zu attestieren, dass er statt des Lebensschutzes den „Infektionsschutz“ meint, wie es in gewissen christlichen Lebensschützerkreisen offenbar versucht wird, ist Nonsens. Nein, Schäuble meint den Schutz des Lebens und sagt auch Schutz des Lebens. Infektionsschutz macht in diesem Zusammenhang auch überhaupt keinen Sinn.    

Wird die menschliche Würde von Schäuble also als Deckmantel für wirtschaftliche Lockerungen gebraucht, von denen man das Heil erwartet? Dann würde er bloße Sophistik betreiben und einen "christlichen" Sozialdarwinismus vertreten. Doch warum soll der Rechtsstaat den Darwinismus selbst herbeiführen? Wenn Christen den „Dammbruch“, der in Schäubles Worten enthalten ist, ignorieren, geben sie ihre eigene Position des Lebensschutzes auf, den sie in den vergangenen Jahrzehnten stets als unbedingt und unteilbar verteidigt haben. Sie schwimmen mit im utilitaristischen Strom. Wollen sie das?

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Stefan Meetschen

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