Wieder einmal eskaliert der militärische Dauerkonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Vordergründig geht es um das kleine Berg Karabach (russisch Nagorny Karabach, armenisch Arzach), wo nur 147.000 Menschen leben. Wem das Gebiet gehört, ist kompliziert, denn es gibt historische, ethnische und völkerrechtliche Aspekte, die facettenreich sind – wie fast alles in dieser Region.
Machthungrige Regionalmächte
Brandgefährlich ist die Eskalation jedoch, weil hier nicht bloß zwei verfeindete Nachbarn um eine kleine Bergregion kämpfen. Hinter den Kontrahenten stehen selbstbewusste, machthungrige Regionalmächte, die hier – und an anderen Schauplätzen – um regionale Vorherrschaft ringen: Moskau sieht sich als Schutzmacht Armeniens; Ankara versteht sich als großer Bruder und Alliierter Aserbaidschans. Im südlichen Kaukasus droht – wie in Libyen, in Syrien oder (mit anderen Akteuren) im Jemen – ein weiterer Stellvertreterkrieg.
Nicht viel Aufmerksamkeit
Das Corona-gebeutelte Europa scheint für den Krieg vor seiner Haustüre nicht viel Aufmerksamkeit zu haben. Das aber wäre ein tragischer Fehler: Die Europäische Union hat alles Interesse, die zwei europäischsten Staaten der Kaukasus-Region in ihrer Staatlichkeit zu stabilisieren: Georgien und Armenien. Der südliche Kaukasus ist ein Vorhof Europas, darum dürfen die Europäer nicht tatenlos zusehen, wie sich Russland und die Türkei hier ihre Einflusszonen abstecken.
Georgien und Armenien waren im 4. Jahrhundert die ersten christlichen Königreiche. Heute bilden sie den Ostrand der europäischen Werteordnung, welche Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erstrebt. Nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft dieser Region verpflichtet das vereinte Europa dazu, in die Rolle einer Schutz- und Ordnungsmacht zu finden.
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