Befreiung oder Zusammenbruch? Lange taten sich die Deutschen schwer mit der Einordnung dieses Tages. Auch Katholiken. Ein NS-Gegner wie Bischof von Galen sprach mit Blick auf die alliierten Kriegsgegner von gestern von Feindbesatzung - und dachte damit in der konservativ-patriotischen Logik weiter, die auch vielen Nicht-Nazis den Krieg plausibel hatte erscheinen lassen.
Unterschiedliche Lesart des 8. Mai
Der junge Robert Spaemann hingegen - später einer der größten katholischen Denker des 20. Jahrhunderts - hatte zuvor in jeder Bombe auf deutsche Städte die gerechte Strafe für Nazideutschland und die in seinem Namen begangenen Verbrechen gesehen. Bundespräsident von Weizsäcker legte endgültig erst 1985 die bundesrepublikanische Lesart fest, die den Tag als solchen der Befreiung von einer unmenschlichen Diktatur feierte. Recht eigentlich konnte er aber nur für die Westdeutschen sprechen - und wiederum nur für die, die selber nicht aus ihrer Heimat vertrieben worden waren.
Mit der sowjetischen Besatzung und SED-Diktatur im Osten wurde ein Totalitarismus durch den nächsten abgelöst. Für die Mittel- und Osteuropäer kam die wirkliche Befreiung erst 1989. Und man kann die Polen verstehen, wenn sie die Russen - Stichwort Hitler-Stalin-Pakt und Aufteilung Polens - an ihre Verantwortung zu Beginn des Weltkriegs erinnern.
Frei von Totalitarismus - braunem wie rotem
Für die Zeitgenossen war der 8. Mai also ein Tag der Ambivalenz, weil persönliches Erleben oft das Gefühl der Befreiung nicht aufkommen lassen wollte. Nachgeborene Deutsche wie Europäer hingegen dürfen uneingeschränkt dankbar sein, dass ihr Kontinent heute in allen seinen Teilen frei ist vom Totalitarismus - braunem wie rotem.
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