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Kommentar: Mensch, keine Bestie

Menschenrechte gelten unabhängig von der Kassenlage. Ihre Beachtung darf deshalb auch nicht an Personalengpässen im Gesundheitswesen scheitern. Von Stefan Rehder

Hätte es noch eines Beweises bedurft, wie bedeutsam das Urteil ist, mit welchem das Bundeverfassungsgericht vergangene Woche die Rechte von Patienten stärkte und ihre Fixierung an richterliche Anordnungen band, dann wurde er inzwischen erbracht. Denn viele der Einlassungen, mit denen das Urteil in Sozialen Netzwerken und Foren kommentiert wurde, sind nur schwer zu ertragen. Schizophrene, bipolar Gestörte und andere psychisch Kranke mögen Ärzte und Pflegepersonal vor besondere, in überaus schweren Fällen vielleicht sogar vor unlösbare Herausforderungen stellen. Doch verwirken diese damit nicht ihre Menschenrechte. Selbst ein Mensch, der sich wie eine Bestie verhielte, mutiert nicht zur Bestie. Er bleibt Mensch. Zwangsfixierung von psychisch Kranken, sei es zum Schutze des sie behandelnden Personals, sei es zu ihrem eigenen, dürfe daher nur ein allerletztes Mittel sein. Eines, dessen Alternativlosigkeit daher Dritten gegenüber jederzeit plausibel gemacht werden können muss und das einer unabhängigen Überprüfung standhält.

Insofern schützt das Urteil der Verfassungshüter nicht nur die Menschenwürde und Rechte von Patienten, es schützt zugleich die Würde des sie behandelnden Personals vor Übergriffen, zu denen der oft harte Alltag in zahlreichen Einrichtungen des Gesundheitswesens verleiten mag. Ohnehin dürfte die Mehrzahl der Fixierungen nicht in speziellen Einrichtungen für psychisch Kranke, sondern in Alten- und Pflegeheimen erfolgen, die teilweise über katastrophale Personalschlüssel verfügen. Für die Praxis bedeutet das: Das Personal im Gesundheitswesen muss deutlich aufgestockt werden. Mit einem bloßen Mehr an Richtern, die Fixierung anordnen oder – was der Regelfall werden dürfte – im Nachhinein genehmigen, ist es nicht getan. Menschenrechte gelten unabhängig von der Kassenlage. Ihre Beachtung darf deshalb auch nicht an Personalengpässen im Gesundheitswesen scheitern.

Dafür kann das Bundesverfassungsgericht nicht sorgen. Das ist Aufgabe der Politik. Auf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und seine Länderkollegen wartet viel Arbeit.

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