Bei Erdogan sind wir alle stets bereit, schnell das Schlimmste anzunehmen. Nach fast zwei Jahrzehnten gründet das nicht auf Vorurteil, sondern auf reichlich schlechter Erfahrung. Aber wie lässt sich einordnen, dass der türkische Präsident den Armeniern seines Landes zum 105. Jahrestag der Tragödie von 1915 kondoliert? Wie darf man deuten, dass er in einem Schreiben an den Patriarchen der Armenisch-Apostolischen Kirche in Istanbul "respektvoll an die osmanischen Armenier" erinnert, die damals ihr Leben verloren? Wie kann man missdeuten, dass er heute verspricht, sich gegen jede Diskriminierung türkischer Staatsbürger "aufgrund des Glaubens und der Identität" zu stemmen?
Ankara
Kommentar: Erdogan überrascht
Doch mit seinen Beileidsschreiben von 2014 als Regierungschef und jetzt als Präsident hat Recep Tayyip Erdogan ein Tabu der türkischen Staatsdoktrin über Bord geworfen. Alle Versuche, seine Worte mit Opportunismus zu erklären, greifen zu kurz.