Der Schatten von Juso-Chef Kevin Kühnert ist lang. Seit Samstag reicht er bis in die Parteispitze der SPD – und könnte sich sogar auf die Große Koalition legen. Denn mit dem Wahlerfolg von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans erlebt der linke Flügel der Sozialdemokraten eine Renaissance. Manche würden ihn mit Fug und Recht auch „linksradikal“ nennen. Die Positionen sind bekannt: Erhöhung des Mindestlohns, starker Sozialstaat, härtere Klimapolitik. Um den Preis des Koalitionsvertrags, wenn es sein muss. Die Basis hat sich gegen den realpolitischen Kurs und für das ideologische Experiment entschieden.
Verheddert im ständigen, innerren Kampf
Von Beginn an stand die Große Koalition unter dem Damoklesschwert der inneren Zerrissenheit der SPD. Die Sozialdemokratie ist seit ihrer Geburt im ständigen, inneren Kampf verheddert. In der Opposition konnte sie sich mit Maximalforderungen und Sozialromantik regenerieren. In der Regierungsverantwortung verblasste der Utopismus zugunsten von Pragmatismus und Opportunismus. Nicht nur Gerhard Schröder und Helmut Schmidt scheiterten an dieser Unvereinbarkeit, an deren Ende die Linken und Grünen als radikale Kinder gegen ihre roten Eltern rebellierten. Bereits die SPD unter Friedrich Ebert hatte mit der USPD als Abspaltung zu kämpfen.
Nun haben die Radikalen dagegen die Führungsspitze übernommen. Personifiziert wird der Wechsel durch Esken. „Wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung“, twitterte die 58-jährige Stuttgarterin im Januar 2018. Bei ihrer Wahlkampagne für den SPD-Vorsitz betonte sie im September: „Der Schwangerschaftsabbruch muss raus aus dem Strafgesetz!“ Eine Fortführung der Großen Koalition machte sie von einer Nachbearbeitung des Koalitionsvertrages abhängig. Das klingt ganz, als hätten die Jungsozialisten, die zusammen mit Kühnert am stärksten gegen die Neuauflage von Schwarz-Rot wetterten, nun die Führung übernommen. Rot-Rot-Grün strahlt die Zukunft.
Auf Angela Merkel lastet kein Druck
Das Schicksal von Angela Merkels Kabinett hängt nun vom nächsten SPD-Parteitag ab. Die deutsche Presse spekuliert bereits über Koalitionsbruch und Neuwahlen. Das erscheint jedoch weniger realistisch als die derzeitige Aufgeregtheit glauben macht. Einerseits sind Walter-Borjans und Esken in ihrer Wortwahl bereits vorsichtiger geworden. Andererseits bedeutet ein Koalitionsbruch nicht sofort Neuwahlen. Das Grundgesetz hat hohe Anforderungen an eine Auflösung des Parlaments gelegt: Ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Merkel steht nicht im Raum und ein Selbstauflösungsrecht kennt der Bundestag nicht. Es bräuchte dafür also eine Vertrauensfrage, welche die Kanzlerin erst einmal stellen müsste.
Druck hat Merkel dabei nicht. Denn der Haushalt ist am Freitag abgesegnet worden, die CDU/CSU-Fraktion könnte noch ein ganzes Jahr als Minderheitsregierung im Geschäft bleiben und die SPD-Ministerien mit Unionspolitikern besetzen. Sie befindet sich also in einer bequemen Situation. Was dagegen steht: das Harmoniebedürfnis der CDU. Minderheitenregierungen auf Bundesebene sind der auf Stabilität bedachten Union ein Ärgernis. Eher wird das passieren, was wir bereits seit 2005 kennen, nämlich eine Sozialdemokratisierung der CDU-Politik. Ob Energiewende, Migrationskrise oder Ehe für alle: Nachdem sich die Unionsparteien in den letzten Jahren entkernt hat, wird auch diese Angleichung zugunsten des Machterhalts nur ein kleiner Preis sein. Die Union hat in den letzten Jahren gezeigt, dass sie ihr Erbe bereits aus geringeren Anläsen für ein Linsengereicht verkauft.
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