Vorläufiger Höhepunkt einer nicht nur in den USA grassierenden Tendenz, in bestimmten Medien missliebige Meinungen und Inhalte gar nicht erst aufkommen zu lassen, stellt das freiwillige Ausscheiden der New York Times-Kolumnistin Bari Weiss dar. In einem Schreiben an den Herausgeber der einst als Leitmedium geltenden Zeitung, Arthur Gregg Sulzberger, prangert sie Praktiken an, die zu Recht Empörung hervorrufen: Schikanen, Beleidigungen, die Überarbeitung von unbequemen Artikeln und ideologische Parteinahme seien an der Tagesordnung. Sachverhalte, die schon länger hinter vorgehaltener Hand kommuniziert wurden, nun aber von Bari Weiss laut ausgesprochen werden.
Raubtiere der Meinungsfreiheit
Grund genug für die Essayistin Céline Pina, das Geschehen für den Figaro zu analysieren. Pina schreibt: „Entmenschlichung, Anschuldigungen ohne Beweis sowie eine Zensur – das ist das Triptychon, das aus jungen Journalisten, die sich als progressiv präsentieren, die neuen Raubtiere der Meinungsfreiheit machen“. Während sie ihre Kritiker aus dem banalsten Anlass als „Nazis oder Faschisten beschimpfen, merken sie nicht, dass ihr Verhalten übergriffiger und schlimmer als das derjenigen ist, die sie unter Beschuss nehmen wollen“.
Was Bari Weiss selbst erlebte, beschreibt die ehemalige Redakteurin der New York Times so: die online-Plattform Twitter sei, obwohl sie nicht im Impressum der Zeitung stehe, zu deren „eigentlichem Chefredakteur“ geworden. Die Themen würden so ausgewählt und erzählt, „dass sie nur eine eng begrenzte Zielgruppe zufriedenstellen, anstatt einer wissbegierigen Leserschaft zu ermöglichen, sich über die Welt zu informieren und dann ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.“. Ihre eigenen Ausflüge in das ‚Wrongthink‘ - die Welt des „falschen Denkens“ – machten Weiss zum Gegenstand „ständigen Mobbings seitens der Kollegen, die nicht meiner Auffassung waren. Sie nannten mich Nazi und Rassistin“. Mehrere Kollegen, die als ihre Freunde betrachtet wurden, seien von anderen Kollegen gemobbt worden: „Wieder andere Mitarbeiter der ‚New York Times‘ verleumden mich öffentlich auf Twitter als Lügnerin und Fanatikerin – ohne jegliche Angst, dass dieses Mobben entsprechende Maßnahmen nach sich ziehen könnte. Das geschieht in der Tat auch nie“.
Löschkultur beklagt
Ihr Fall sei kein Einzelfall, betont Weiss. Denn die Wahrheit sei, „dass intellektuelle Neugier – ganz zu schweigen von Risikobereitschaft – bei der ‚Times‘ heutzutage eine Belastung ist. Warum etwas bringen, das für unsere Leser unbequem ist, warum etwas Gewagtes schreiben, nur um es in einem abstumpfenden Prozess ideologisch koscher zu machen, wenn wir unsere Arbeitsplätze (und Klicks) dadurch sichern können, dass wir den 4000. Kommentar zu ‚Warum Donald Trump eine Gefahr für unser Land und die ganze Welt ist‘ bringen? Und so ist die Selbstzensur zur Norm geworden“.
Das Schreiben von Bari Weiss kommt gerade zur rechten Zeit. Erst kürzlich hatten 150 Intellektuelle in einem offenen Brief im „Harper’s Magazine“ die zunehmend alltäglich werdende „Cancel Culture“, die „Löschkultur“, in unserer Gesellschaft beklagt. Genau das ist es, was auch Bari Weiss kritisiert, wenn sie in ihrem Brief bemerkt, dass „online-Bosheit entschuldigt wird, solange sie sich gegen die richtigen Ziele richtet“.
Figaro-Autorin Céline Pina kommentiert: „Wenn die Aktivisten und Ideologen die Macht übernehmen, gehen die Suche nach der Wahrheit und die Bezugnahme auf die Fakten verloren, und die Manipulation belegt deren Stelle. Das symbolische Autodafé der Gedanken und Personen gewinnt hierbei das, was der Journalismus hierbei verliert. Bald wird man die Großartigkeit des progressiven Journalisten nach der Anzahl derjenigen messen können, die er gesellschaftlich ruiniert und deren Stimme er ausgelöscht haben wird. Und das wird der Untergang der freien Presse sein“.
DT/ks
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