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Tempelberg: Israels umkämpfter Berg

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Gewaltausbrüche zwischen Juden und Muslimen auf dem Tempelberg sind kein Novum. Doch wie lassen sich die jüngsten Eskalationen erklären?
Israelischer Polizist mit Mundschutz steht in der Altstadt Wache
Foto: Ilia Yefimovich (dpa) | Israel, Jerusalem: Ein israelischer Polizist mit Mundschutz steht in der Altstadt Wache, im Hintergrund der Felsendom auf dem Tempelberg.

Als die israelische Armee im Juni 1967 den Tempelberg in der Jerusalemer Altstadt einnahm, war dies nur ein weiteres Glied in einer jahrtausendelangen Kette von Eroberungen und Verdrängungen. Der biblischen Erzählung zufolge hatte König David die Stadt einst den Jebusitern entrissen. Der von seinem Sohn Salomo dort auf dem Berg Morijah erbaute erste jüdische Tempel wurde 586 v. Chr. von den Babyloniern zerstört. Nach ihnen eroberten Perser, Griechen und dann die Römer das Gebiet, die den von König Herodes erbauten zweiten Tempel im Jahr 70 dem Erdboden gleichmachten. Die auf sie folgenden Byzantiner verlegten mit dem Bau der Grabeskirche das Zentrum der Stadt nach Westen und ließen das Tempelbergareal verkommen. So konnten dort die muslimischen Eroberer im 7. Jahrhundert ihre Sakralbauten – die Al-Aqsa-Moschee und den Felsendom – errichten. Die Stätte wurde zum drittwichtigsten Heiligtum im Islam: Wie im Koran überliefert, betete der Prophet Muhammad auf seiner nächtlichen Reise von Mekka nach Jerusalem auf dem Berg und unternahm von dort aus auch seine Himmelfahrt. Anders als in byzantinischer Zeit durften sich die Juden nun in Jerusalem niederlassen. Zu dieser Zeit war längst das Gedenken an die Zerstörung des Tempels und die Hoffnung auf dessen Wiederaufbau in ihrer Liturgie und dem religiösen Schriftum verankert. Der Zutritt zum Tempelberg war ihnen aber verwehrt, man ließ sie nur an dessen Toren beten. Damit bekräftigten die Muslime ihren Anspruch auf den heiligen Ort, und jene Elemente, die sie aus den jüdischen Heiligungserzählungen über den Tempelberg übernahmen, deuteten sie islamisch um.

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Die Zionisten entdeckten die Klagemauer für sich

Die fast 1300 Jahre währende muslimische Herrschaft über den Tempelberg wurde vorübergehend durch die Kreuzfahrer unterbrochen, die von 1099 bis 1187 und 1229 bis 1244 dort herrschten und die islamischen Sakralbauten in dieser Zeit in ihrem Sinne umfunktionierten. Die Osmanen, die ab dem frühen 16. Jahrhundert das Land regierten, gestatteten den Juden, an der Klagemauer zu beten; allerdings durften sie in der engen Gasse davor aus Rücksicht auf die muslimischen Anwohner nur eingeschränkt Sitzgelegenheiten und Scheidewände zur Trennung der Geschlechter verwenden.

Als diese Regelung von den Briten nach ihrer Eroberung Palästinas 1917 übernommen wurde, stießen sie bei ihrer Durchsetzung auf Schwierigkeiten. Denn die Zionisten, die unter der schützenden Hand der britischen Kolonialherren immer selbstbewusster auftraten, entdeckten jetzt die Klagemauer für sich als nationales Symbol, auf das sie Besitzansprüche anmeldeten. Diese Vorstöße wurden von palästinensischen Nationalisten unter der Führung des Jerusalemer Muftis Amin al-Husseini geschickt abgewehrt: Sie stilisierten den immer wieder aufflammenden Streit um Sitzbänke und Trennbarrieren zum groß angelegten Plan der Juden, sich des Moscheenareals bemächtigen zu wollen, um dort den jüdischen Tempel zu errichten. Die Legende half, die Unterstützung der islamischen Welt zu gewinnen, und al-Husseini verbreitete sie auch während und nach der Zeit, in der er für das NS-Regime von Berlin aus antijüdische Propaganda betrieb.

Der Streit um die Klagemauer ruhte, nachdem die Jordanier im israelisch-arabischen Krieg von 1948 die Jerusalemer Altstadt eingenommen hatten. Als die Israelis 1967 Ostjerusalem eroberten, schufen sie rasch vollendete Tatsachen: Sie rissen das davor liegende Maghrebiner-Viertel ab, um Platz für tausende jüdische Besucher zu schaffen. Die Kontrolle über den Moscheenbezirk überließ Israel weiterhin der muslimischen Waqf-Verwaltung. Juden und andere Nichtmuslime durften nun das Areal besuchen, dort aber nicht beten.

Religiöse und ultranationale Israelis betreten den Moscheebezirk, um zu provozieren

Israels Oberrabbinat erließ für Juden das Verbot, das Moscheenareal zu betreten mit der Begründung, dass die genaue Stelle des Allerheiligsten nicht bekannt sei und daher die Gefahr bestehe, das Allerheiligste, das einst nur der Hohepriester betreten durfte, zu entweihen. An das Zutrittsverbot hielten sich die Gläubigen, nicht aber die Säkularen und zunächst auch nicht der messianisch bewegte Militäroberrabbiner Shlomo Goren. Unmittelbar nach Kriegsende hatte Goren die Kontrolle über das Moscheengelände für das Militärrabbinat beansprucht und dort nah am Maghrebiner-Tor in einem evakuierten Gebäude sogar ein Bethaus eingerichtet. Seine Gebetsversammlungen brachten die Muslime auf und wurden bald von der israelischen Regierung verboten. Sie inspirierten aber all jene religiösen und ultranationalistischen Israelis, die in den Jahren danach in kleinen Gruppen auf dem Moscheenbezirk mit Gebetshandlungen und nationalistischen Aktionen provozierten. Mit ihrer Forderung nach einem Betrecht auf dem Bergplateau zogen sie sogar wiederholt vor Gericht – allerdings ohne Erfolg. Manche jüdischen Eiferer gingen noch weiter und planten Anfang der achtziger Jahre, den Felsendom in die Luft zu sprengen. Zwei von ihnen standen schon kurz davor, als sie 1984 in einer Januarnacht auf dem Moscheenareal entdeckt und nach ihrer Flucht festgenommen wurden.

Die israelische Polizei reagierte auf diese Entwicklungen mit größerer Präsenz an den Toren zum Tempelberg wie auch auf dem Moscheengelände. Proteste der Palästinenser gegen die verstärkte Polizeipräsenz und provokante, medial inszenierte Besuche ranghoher rechtsgerichteter israelischer Politiker eskalierten häufig in Gewalt. Sie wurden immer wieder mit massivem Einsatz von Feuerwaffen niedergeschlagen, die Todesopfer und Verletzte forderten. So auch nach dem provokanten Tempelberg-Besuch des Likud-Chefs Ariel Sharon im September 2000, nach dem schon wenige Tage später die zweite, sogenannte Al-Aqsa-Intifada ausbrach.

Auch wenn der 1967 etablierte Status quo auf dem Berg von all diesen heftigen Auseinandersetzungen im Wesentlichen unberührt geblieben war, so setzte infolge des Osloer Friedensabkommens zwischen Israel und der PLO von 1993 eine folgenschwere Entwicklung ein. Führende Siedlerrabbiner bekräftigten jetzt den jüdischen Anspruch auf den Tempelberg, indem sie gegen das seit 1967 bestehende Zutrittsverbot des Oberrabbinats zum Moscheenareal rebellierten. Regelmäßig riefen sie ihre Anhänger auf, auf den Berg zu pilgern, und taten dies auch selbst in Gruppen.

Weil sich nun immer mehr ideologisch motivierte Pilger auf das Moscheenareal begaben, stieg auch die Zahl ihrer Versuche, mit Gebetsaktionen dort zu provozieren – was nun auch prominente rechtsgerichtete Politiker nachzumachen begannen. Trotz heftiger Proteste der Palästinenser ließ der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das Treiben der jüdischen Eiferer weitgehend zu. Rückendeckung erhielten sie zudem, als die auf dem Moscheenbezirk gegen sie gerichteten Protestaktionen islamistischer Palästinenserinnen und Palästinenser 2015 von der Regierung verboten wurden.

Durch intensive Lobbyarbeit konnten die jüdischen Eiferer, die kein Hehl aus ihrer Absicht machen, eines Tages die islamischen Heiligtümer durch den jüdischen Tempel zu ersetzen, schließlich den früheren Likud-Minister für Innere Sicherheit (2015-2020), Gilad Erdan, für ihre Sache gewinnen. Dieser gab 2018 der israelischen Polizei grünes Licht, den jüdischen Pilgern zu erlauben, auf dem Moscheenbezirk leise vor sich hin zu beten. Ihnen wurde bald auch noch gestattet, den Berg an islamischen Feiertagen zu besuchen.

Muslime fürchten eine Zweiteilung des Moscheeareals

Dem wachsenden palästinensischen Protest gegen diese Maßnahmen begegnete die israelische Polizei nicht nur mit immer schärferen Sicherheitskontrollen. Auch wurden nun die muslimischen Waqf-Wächter, zu deren Aufgaben es seit 1967 gehörte, Gebetshandlungen von Juden den israelischen Sicherheitskräften zu melden, sukzessive ausgeschaltet. Wenn sie heute gegen die schleichende israelische Aushöhlung des Status quo protestieren, riskieren sie Geldstrafen und – wie mittlerweile auch hohe Waqf-Beamte – die Verbannung vom Moscheenareal für Monate. Bei den Muslimen wächst zunehmend die Sorge vor einer dauerhaften räumlichen wie zeitlichen Aufteilung des Moscheenareals zwischen Muslimen und Juden: Nach der Präzedenz der Patriarchengräber in Hebron, die Israel nach dem blutigen Massaker an dortigen Moscheenbesuchern schon in den neunziger Jahren trotz massiver Proteste aufgeteilt hatte.

Diese Ängste bildeten auch den Hintergrund für die jüngste Gewalteskalation auf dem Berg im Mai. Die islamistische Hamas nutzte sie mit ihrem Raketenbschuss in Richtung Jerusalem, um sich als Beschützerin der Al-Aqsa in Szene zu setzen – eine Rolle, die sie nun eifrig weiter für sich beansprucht. Ändert die neue israelische Regierung in der Tempelberg-Frage den provokativen Kurs ihrer Vorgängerin nicht, ist der nächste Gewaltausbruch programmiert.


Der Autor, geboren 1960 in Haifa (Israel), ist Historiker und Journalist. Zum Thema ist von ihm in diesem Jahr bei C.H.Beck erschienen:
„Al-Aqsa oder Tempelberg: Der ewige Kampf um Jerusalems Heilige Stätten“.

 

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