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Embryonenschutz und Lebensrecht

Die Akademien der Wissenschaften schlagen vor, menschliche Embryonen, die bei der Befruchtung im Reagenzglas nicht in die Gebärmutter eingesetzt werden, für die Forschung freizugeben.
Erzeugung „embryoähnlicher Strukturen“ aus im Reagenzglas
Foto: Bernd Wüstneck (dpa-Zentralbild) | Wissenschaftler sehen Perpektiven für die Erzeugung „embryoähnlicher Strukturen“ aus im Reagenzglas hergestellten Keimzellen.

Im März 2019 hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina unter Federführung des Mannheimer Medizinrechtlers Jochen Taupitz die ausführliche Stellungnahme „Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung“ vorgelegt. Anfang Mai 2021 folgt nun mit dem Bericht „Neubewertung des Schutzes von in-vitro-Embryonen in Deutschland“ gewissermaßen die Fortsetzung dieser Stellungnahme, diesmal unter Hinzuziehung der Union der (regionalen) Deutschen Akademien der Wissenschaften. Von der argumentativen Grundlage her unterscheiden sich beide Papiere nur graduell, lediglich der Fokus ist ein anderer. In dem neuen Bericht wird abermals das Embryonenschutzgesetz aufs Korn genommen, aber diesmal um den Weg für die Verwendung von sogenannten „überzähligen“ Embryonen für die Forschung freizuschießen.

Welche Kriterien machen menschliches Leben aus?

Ein zentraler Punkt in beiden Dokumenten, in dem zweiten fast klarer zur Sprache gebracht als im ersten, ist der moralische Status des menschlichen Embryos in frühem und frühestem Stadium. Den Verfassern muss man zugutehalten, dass sie nicht versuchen, diese Frage zu umschiffen oder sprachliche Kunstgriffe anzuwenden. Sie gehen sie frontal an. „Die Statusfrage“, schreiben sie, sei „das Nadelöhr zu allen anderen ethischen Abwägungsfragen“. Auch geben sie zu, dass sich „die Maximalposition“ in Bezug auf das Lebensrecht des Embryos „[b]egründungslogisch (…) nicht zwingend widerlegen [lässt]“, ein Zustand, den sie als „anhaltende Pattsituation“ beschreiben. Dennoch tun sie ihr Bestes, diese Position – wohl unter Umgehung der „Begründungslogik“ – doch zu widerlegen. Hierfür setzen sie sich mit den SKIP-Argumenten, und hier insbesondere mit dem Potenzialitätsargument, detailliert auseinander. Die vier SKIP-Kriterien sind: die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens; die Kontinuität der menschlichen Entwicklung von der Befruchtung an ohne klare Zäsuren; die Identität des Embryos mit dem Fötus, des Fötus mit dem Kind, des Kindes mit dem Erwachsenen (man sagt, „als ich noch im Bauch meiner Mutter war“ und nicht „als das Wesen, aus dem ich später wurde, im Bauch meiner Mutter war“) sowie die Tatsache, dass der Embryo vom ersten Augenblick an das volle Potenzial zur Entwicklung des neuen Menschen in sich trägt; von außen kommt nichts Neues an Information mehr hinzu. Sie bilden die argumentative Grundlage des Lebensrechts. Oft schon wurden die SKIP-Kriterien kritisiert, doch nie wurden sie überzeugend widerlegt.

Moralische Verpflichtungskraft

So auch im neuen Bericht der Akademien der Wissenschaften: Die Frustration der Verfasser über die Vertreter einer starken Lebensrechtsposition ist förmlich herauszuhören, wenn auch keine einzige Veröffentlichung oder Vertreter der Lebensrechtsseite im Dokument zitiert werden. Weil weitere Faktoren, etwa die Einnistung in der Gebärmutter notwendig sind, damit das Embryo sein Potenzial entfaltet, wird die „moralische Verpflichtungskraft“ des Entwicklungspotenzials als „nicht überzeugendes ethisches Postulat“ ohne weitere Begründung abgetan. Zusätzlich wird aufgeführt, dass einerseits dieses Potenzial bereits vor und nach der Zellkernverschmelzung durch „neuere molekularbiologische Techniken“ gestört werden kann, andererseits zumindest im Tierversuch Körperzellen durch biochemische Manipulation dazu veranlasst werden können, sich zu funktionsfähigen Embryonen zu entwickeln. All dies ändert jedoch nichts an der Überzeugungskraft des Potenzialitätsarguments.

Dass die fortgesetzte Existenz eines Menschen in allen Phasen seiner Entwicklung von einer Vielzahl von äußeren Faktoren abhängig ist, ist eine Banalität. Neue Entwicklungen mit künstlichen Gebärmüttern zeigen zudem, dass die embryonale und später die fötale Entwicklung über längere Zeiträume hinweg außerhalb des Mutterleibes, also extracorporal, möglich ist. Es ist zwar möglich, die Entwicklung eines Embryos zu stören oder künstlich herbeizuführen, doch ändert dies nichts an der Potenzialität dieses Embryos an sich. Selbst die Verfasser scheinen von den eigenen Argumenten nicht überzeugt zu sein. So argumentieren sie, dass die „schwächeren Schutzpositionen (…) verbreiteten Intuitionen“ deutlich besser entsprächen als die Position des „maximalen Embryonenschutzes“. Eine Intuition allein kann aber keine tragfähige moralische Position begründen.

Löchriger Schutz des Lebens menschlicher Embryonen

Allerdings weisen die Verfasser auf eine Tatsache hin, die tatsächlich ein Problem darstellt: die Inkonsistenz der rechtlichen Positionen rund um das Lebensrecht. So führen sie neben der Zulassung von Medikamenten, die die Einnistung des Embryos in die Gebärmutter hemmen („Pille danach“) an, dass das Embryonenschutzgesetz bereits heute das Überleben des Embryos in vitro vollkommen von der Einwilligung der Frau zur Einsetzung abhängig macht und auch die Weitergabe „überzähliger“ Embryonen an adoptionswillige Dritte nicht erfordert. Wolle die Frau die Einsetzung nicht, werde der Embryo nicht eingefroren („kryokonserviert“) sondern „verworfen“ und damit getötet. Auch weisen die Autoren zu Recht darauf hin, dass die Einschränkungen des Embryonenschutzgesetzes nicht für auf natürlichem Wege gezeugte Embryonen gelten und auch nicht für solche, die nach der Einnistung in der Gebärmutter entnommen werden. Letzterer Punkt gewinnt in unseren Tagen durch die Verwendung von Impfstoffen gegen Corona, die mithilfe von Zelllinien entwickelt oder produziert werden, die gerade aus solchen Föten gewonnen wurden, zusätzliche Brisanz.

Auch zeigen die Autoren die Schwäche der derzeitigen Abtreibungsgesetzgebung, die in § 218 StGB geregelt ist. Wie der Nationale Ethikrat und andere 2002 gezeigt haben, ergeben sich aus der Differenzierung „rechtswidrig, aber straffrei“ keine nennenswerten Rechtsfolgen. Nur: All diese Einwände könnten genauso gut andersherum aufgelöst werden: wenn wir den Embryo konsequent schützen wollen, wieso ist Abtreibung dann noch ohne Rechtsfolgen, wieso sind Nidationshemmer noch verfügbar und wieso ist der „deutsche Mittelweg“, der die Produktion „überzähliger Embryonen“ ermöglicht, in der Reproduktionsmedizin noch gangbar?

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Politische Kompromisse

Wohin aber führt die Reise, wenn wir uns von dieser „Maximalposition“ verabschieden und uns stattdessen „politische Kompromisse“ suchen, die der „Rechtswirklichkeit“ und der „lebensweltlichen Praxis“ entsprechen, wie es sich die Akademien wünschen? Hier bleibt der Bericht sehr offen, ähnlich offen wie auch die angepeilten Embryonen-Forschungsfelder offen sind. Es gehe um die Aufklärung früher molekularer Prozesse in der Entwicklung des Menschen und um die Verbesserung der Fortpflanzungsmedizin, aber auch um die Nutzung embryonaler Stammzellen für die „Zellersatztherapie“ sowie um die Analyse von Keimbahneingriffen mithilfe der CRISPR/Cas9-Genschere. Damit nicht genug: perspektivisch wird auch die Erzeugung „embryoähnlicher Strukturen“ aus im Reagenzglas hergestellten Keimzellen sowie die Erforschung von Embryonen über den bislang üblichen Rahmen von 14 Tagen ins Visier genommen. Bei Licht betrachtet heißt das: Hier wird auf einem wackeligen argumentativen Fundament die nahezu vollkommene Freigabe der Forschung an menschlichen Embryonen bis hin zur Keimbahnmanipulation gefordert. Obwohl die Forschung mit embryonalen Stammzellen bisher eher enttäuscht und noch zu keinem nennenswerten therapeutischen Erfolg geführt hat, fordern die Akademien einen Freifahrtschein für „hochrangige“ Forschung auf diesem Gebiet. Zusammengenommen offenbaren beide Berichte der Wissenschaftsakademien ein erbarmungsloses utilitaristisches Menschenbild, das unter der Oberfläche den alten Traum der Selbstperfektionierung des Menschen durchschimmern lässt.

Neue Kooperationspartner im Lebensschutz?

Müssen wir vor diesem scheinbaren Megatrend des Zeitgeists kapitulieren? Haben wir es hier mit einer Einbahnstraße Richtung Verwertung des Menschen zu tun? Keinesfalls. Gerade in diesen Tagen zeigt die recht erfolgreiche #NoNipt-Kampagne gegen die Kassenzulassung der nicht-invasiven vorgeburtlichen Gendiagnostik, dass es eine neue Sensibilisierung in der Gesellschaft gegen die Selektion und Diskriminierung von andersartigen Menschen gibt. Zwar werden bei diesen Aktivitäten Begrifflichkeiten wie „Ableismus“ (aus dem Englischen „able“, „ability“ für „fähig“, „Fähigkeit“) verwendet, die vielen in der klassischen Lebensrechtsbewegung fremd klingen mögen, doch teilen ihre Protagonisten mit den Lebensrechtlern ein tiefes Unbehagen gegenüber der zunehmenden Verzweckung des Menschen. Hier zitiert man am besten den Bericht der Akademien: „Teile der feministischen Bewegung haben sich ebenfalls kritisch gegenüber fortpflanzungsmedizinischen Techniken und Embryonenforschung ausgesprochen, zumeist aus Gründen des Schutzes der Frau sowie wegen Bedenken hinsichtlich einer Instrumentalisierung des Embryos in vitro für medizinisch-technische Zwecke“. Diese Bedenken hegen nicht nur Feministen: Vielleicht eröffnet aber gerade dies neue Kooperations-Konstellationen für die Zukunft.

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