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Identitätspolitik stürzt Sozialdemokratie in die Krise

Die Identitätspolitik stürzt die Sozialdemokratie in die Krise. Rationale Argumente werden von der Empörung weggespült, und stattdessen herrscht wieder das Gesetz des Kindergartens.
Wolfgang Thierse, SPD
Foto: Ronny Hartmann (dpa)

Die SPD steckt in einer tiefen Krise. Ich selbst gehöre wie so viele andere zu den heimatlosen Sozialdemokraten. Ein seltsamer Vorfall der letzten Tage hat wie in einem Brennglas die desolate Lage der Partei sichtbar gemacht. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und die Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, Gesine Schwan, haben unabhängig voneinander Artikel in der FAZ und der SZ veröffentlicht. Der Grundton beider Texte war gleich. Sie schauen mit Sorge auf eine Entwicklung in der Gesellschaft, die sich unter dem sperrigen Ausdruck der „Identitätspolitik“ abspielt. Gemeint ist damit eine Politik, die ein „Wir zuerst“ propagiert. Die Politik des Gruppenegoismus hat seit einigen Jahren regen Zulauf. Ihre Anhänger reichen von den Trump-Wählern bis zu den lautstarken Minderheiten, die besondere Rechte für sich fordern.

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Kluge Argumente gegen Spaltung der Gesellschaft

In beiden Texten werden kluge Argumente gegen die weitere Spaltung der Gesellschaft angeführt. Die Reaktion der SPD-Führung in Gestalt von Saskia Esken und Kevin Kühnert hätte überraschender nicht ausfallen können. Sie schämten sich öffentlich für die Autoren. Und als sei das nicht schon Verachtung genug, legte der Arbeitskreis „SPDqueer“ noch einmal kräftig nach, indem er beide Autoren in die Nähe der AfD rückte und mit Thilo Sarrazin verglich. Wolfgang Thierse reagierte auf diese öffentliche Ohrfeige mit einer vernünftigen Antwort: Er bot der Parteiführung an, aus der SPD auszutreten, wenn seine Position offensichtlich als Schaden für den neuen Kurs der Partei empfunden wird.

Um die brisante Dimension dieses Konfliktes zu ermessen, muss man sich vor Augen führen, welchen Weg die SPD in den letzten zwanzig Jahren zurückgelegt hat. Ihre Wahlergebnisse sind von 40 Prozent auf inzwischen 15 Prozent abgestürzt. Der Absturz begann mit einer weltanschaulichen Neuausrichtung unter Gerhard Schröder. Die Agenda-Reformen und vor allem die Hartz-IV-Gesetze waren Ausdruck eines Wirtschaftsliberalismus, den die Wähler der SPD noch nie wollten und der auch nicht in ihrem Interesse war. Schröder war der Genosse der Bosse, das haben ihm die SPD-Wähler nie verziehen.

SPD in babylonischer Gefangenschaft

Die aktuelle SPD versucht, sich von dieser Geschichte zu befreien. Das ist zu begrüßen. Doch gerät sie unter der neuen Parteiführung in die nächste babylonische Gefangenschaft. Die schon erwähnte Identitätspolitik ist die Kehrseite des Wirtschaftsliberalismus der Schröder-Jahre. Wollte man damals auf die Globalisierung mit der Flexibilisierung der heimischen Märkte reagieren, so hat sich die Identitätspolitik von den Fragen der materiellen Gerechtigkeit verabschiedet. Die Ohnmacht vor den globalen Kräften des Kapitals scheint so lähmend, dass man sich auf das einzige Feld zurückzieht, wo noch Gerechtigkeit erreicht werden kann. Statt soziale Fragen anzugehen, soll die Anerkennung besser verteilt werden. Und es stimmt tatsächlich, Anerkennungspolitik ist im Kapitalismus gut durchzusetzen. Denn eine gerechte Anerkennung kostet wenig Geld, bringt aber den Unternehmen großen Gewinn.

Die hitzige Debatte um die Umbenennung der Zigeuner-Sauce hat jüngst diese Rechnung entlarvend auf den Punkt gebracht. Während die identitätspolitischen Aktivisten die Zigeuner-Sauce als Symbol für menschenfeindliche Sprache anprangerten, beschloss der Hersteller der umkämpften Sauce drastische Sozialkürzungen in seinen Betrieben. Das Resultat ist bekannt: Die Umbenennung der Sauce wurde als großer Erfolg gefeiert, der Sozialabbau schaffte es bei all dem Getöse um den Saucen-Namen in keine Schlagzeile. Nun heißt sie Paprika-Sauce, und das war weniger ein wertvolles Geschenk an die Community der Sinti und Roma als eine willkommene Ablenkung von den eigentlichen Plänen des Unternehmens.

Dramatische Verschlechterung der politischen Kommunikation

Die Kollaboration des identitätspolitischen Aktivismus mit den Interessen der Arbeitgeber ist jedoch nur die eine Hälfte des Problems. Die zweite Hälfte betrifft die dramatische Verschlechterung der politischen Kommunikation. Identitätspolitik will für die eigene Gruppe besondere Rechte durchsetzen. Das hat zwei fatale Folgen: Zum einen wird durch die partikularen Rechte der hohe Wert des Universalismus ausgehöhlt. Und zum anderen wird für die Durchsetzung der Sonderrechte das Mittel der Empörung angewendet. Der möglichst laute Aufschrei, der das „Wir zuerst“ brüllt, hat den größten Erfolg.

Die schädlichen Folgen für den politischen Dialog treten immer drastischer zutage. Rationale Argumente werden von der Empörung weggespült, stattdessen herrscht wieder das Gesetz des Kindergartens: Wer am lautesten schreit, gewinnt. Und damit ist man im Zentrum der Cancel Culture. Mit diesem Begriff kann man die schädlichen Wirkungen der Identitätspolitik zusammenfassen. Das „Wir zuerst“ speist sich aus der Kränkung, und die eigene Gekränktheit ist die einzige Wahrheit, die noch akzeptiert wird. Ihr Dogma lautet: Dem Opfer muss immer geglaubt werden, und wer sich am lautesten empört, hat den größten Anspruch auf seine Opferwahrheit. Die Folgen sind eklatant. Die Gesellschaft zerfällt in immer kleinere Empörungskollektive, die jedes für sich einen absoluten Anspruch auf Gehör reklamieren. Rationale Argumente, wie etwa die Unschuldsvermutung oder der gesellschaftliche Zusammenhalt, gelten als Angriffe auf das Gefühl der Gekränktheit. So schließt sich der Zirkel der Identitätspolitik.

Identitätspolitische Aktivisten erreichen Sieg um Sieg

Das „Wir zuerst“ hat immer recht, da es gekränkt ist, und die Mehrheitsgesellschaft muss sich unterwerfen, da ihre Argumente als weitere Kränkungen empfunden werden. Wer sich dieser Politik nicht unterwirft, so wie Thierse und Schwan in ihren Artikeln, der muss gecancelt, also ausradiert werden.
Mit dieser Methode erreichen die identitätspolitischen Aktivisten einen Sieg nach dem anderen. Denn immer weniger Menschen sind bereit, sich in einen Konflikt zu begeben, wo die eine Seite versucht, fair zu argumentieren, während die andere Seite zur Cancel Culture der persönlichen Beleidigungen und Diffamierungen der Person greift.

Die Reaktion der SPD-Führung hat gezeigt, wie tief diese giftige Kommunikation in die Politik eingedrungen ist. Esken und Kühnert meinten, nicht mehr begründen zu müssen, was sie an den Argumenten von Thierse und Schwan falsch finden, sondern sie haben sich öffentlich für sie „geschämt“. Damit hat man das Betriebsgeheimnis der Cancel Culture in einem Wort: Wozu braucht es Argumente, wenn es doch viel wirkungsvoller ist, unliebsame Meinungen durch Ächtung auszuschließen?

Wenn die SPD zur Partei des identitätspolitischen Aktivismus werden will, hat sie das nun deutlich gezeigt. Dass sie damit ein kleines, aber sehr lautes Wählersegment anspricht und die übergroße Mehrheit ihrer Wähler verprellt, scheint den neuen Vorsitzenden egal. Der Kampf zwischen dem sozialen Flügel der SPD und ihrem identitätspolitischen Lager ist mit der Wahl von Saskia Esken und Kevin Kühnert wohl entschieden, denn von Norbert Walter-Borjans, dem anderen Vorsitzenden, war hierzu wenig zu hören. Die kommenden Wahlen werden zeigen, wie viele heimatlose Sozialdemokraten sie damit gewinnen. Aber man muss kein Hellseher sein, um den weiteren Gang in die Bedeutungslosigkeit vorherzusehen.

Bernd Stegemann ist Dramaturg am Berliner Ensemble und Autor. Sein letztes Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ ist im Februar bei Klett-Cotta erschienen.

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