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Freie Wähler: Eine Alternative ohne Scheuklappen

Die Freien Wähler gewinnen immer mehr an Boden. Doch sind sie eine Alternative für heimatlose Christdemokraten? Ein Gespräch mit Florian Streibl, dem Fraktionsvorsitzenden der Freien Wähler im Bayerischen Landtag.
Florian Streibl
Foto: Imago Images/H. R. Schulz | Florian Streibl wünscht sich, dass dass alle Christen aus dem Geiste von „Laudato si‘“ heraus leben und handeln.

Herr Streibl, Ihre Partei, die „Freien Wähler“, erlangt immer stärker bundesweite Bedeutung. Als Sie vor 12 Jahren in den bayerischen Landtag einzogen, galt Ihre Partei als bayerisches Phänomen bürgerlicher Opposition zur übermächtigen CSU. Doch wofür stehen die „Freien Wähler“ (FW) programmatisch?

Programmatisch stehen die Freien Wähler in der bürgerlichen Mitte. Die FW entwickelten sich in den letzten 70 Jahren aus einzelnen unabhängigen lokalen Ortsvereinen heraus, die Politik für ihr Gemeinwesen machten und ohne ideologische Scheuklappen die vernünftigsten Lösungen für ihre Kommune finden wollten. Diesen politischen Ansatz leben wir auch heute. Wir FW haben keinen ideologischen Überbau wie manch andere Parteien, sondern suchen pragmatische Lösungen im Sinne des Gemeinwohls.

Darüber hinaus setzen sich die FW im Bayerischen Landtag für solide Staatsfinanzen, starke Kommunen und gleichwertige Lebensverhältnisse ein. Wir stehen für die bäuerliche Landwirtschaft und für eine umweltfreundliche Energieversorgung, für zukunftssichere Bildungsregionen und für ein solidarisches und transparentes Gesundheitssystem.

"Wir sehen uns als die Bürger, die politische Verantwortung
für unsere Mitbürger übernehmen wollen
und die die Politik nicht an andere delegieren"

Wenn man in das Bundestagswahlprogramm schaut, könnte ein katholischer Sozialethiker vieles von dem wiederfinden, was wir aus der Soziallehre kennen. Subsidiarität, Stärkung der Familien, Betonung von Humanität und zugleich von „Recht und Ordnung“. Könnte man den „gesunden Menschenverstand“ als ideellen Kompass der FW bezeichnen?

Ja, für uns steht der Mensch immer im Mittelpunkt. Wir sehen uns als die Bürger, die politische Verantwortung für unsere Mitbürger übernehmen wollen und die die Politik nicht an andere delegieren. Wir nehmen die Demokratie ernst und das heißt, wir müssen als mündige Bürger selbst handeln. Wir übernehmen Verantwortung für eine sachbezogene Politik – jenseits von Parteiideologien. Der gesunde Menschenverstand war deshalb schon immer unser Kompass. Konkret heißt das, wir sehen uns unserem Gewissen verpflichtet und leiten daraus unser politisches Handeln ab.

Sie selber stammen aus Oberammergau, sind Sohn eines CSU-Ministerpräsidenten, wurden durch die Passionsspiele geprägt. Ist Ihnen der Glaube auch als Politiker wichtig?

Meine Heimat Oberammergau und „die Passion“ haben mich geprägt. In meiner Jugend wollte ich alles andere als Politiker werden und habe deshalb katholische Theologie und Jura studiert. Ich war viele Jahre im Vorstand des Diözesanrates von München und Freising und dort hat mich Friedrich Kardinal Wetter immer wieder ermuntert, in die Politik zu gehen. Denn gerade heute braucht es Katholiken, die bereit sind, politisch tätig zu sein. Den letzten Ausschlag gab aber ein guter Freund von mir, der Christusdarsteller der Passionsspiele 1980 und 1984, der mich überredete, für den Gemeinderat in Oberammergau zu kandidieren. 2008 kam ich dann mit den FW in den Bayerischen Landtag und ich habe diesen Schritt in die Politik nie bereut.

Kardinal Wetter hat Recht: Wir brauchen in der Politik Christen, die auf der Grundlage unseres Menschenbildes Entscheidungen treffen. Mir ist mein Glaube wichtig und ich bin froh, dass ich meine Sichtweisen in der Politik der Freien Wählern mitverwirklichen kann. Demokratien können nur dann erfolgreich sein, wenn Bürger aus ihrer innersten Überzeugung heraus bereit sind, zu handeln und das Wagnis der Öffentlichkeit einzugehen.

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Die Stärke der „Freien Wähler“ ist ihre lokale Verwurzelung und die Betonung der Subsidiarität. Etwas, was schon vor Corona angefragt wurde. Der Föderalismus ist unter Druck geraten, ein Durchregieren des Zentralstaats wird zum Idealbild stilisiert. Welche Akzente wollen die FW im Bundestag setzen, wenn sie gewählt werden?

Wir stehen zu einem föderalen und subsidiären Staatsaufbau. Für uns ist die kommunale Ebene die ursprüngliche, die politische Ebene schlechthin. In der „Polis“ entstand die republikanische Demokratie, der wir uns verpflichtet sehen. Denn egal, wo Gesetze und Verordnungen gemacht werden, ob in Brüssel, Berlin oder München: Gelebt werden die Gesetze in unseren Städten und Dörfern. Hier trifft das Gesetz auf den Menschen. Von daher hat der Staatsaufbau subsidiär zu sein, das heißt: alle staatliche Ebenen sind den Kommunen gegenüber subsidiär. Als FW sehen wir in der Pandemie eine Gefahr für den Grundsatz der Subsidiarität, wonach der Bund nur dann regulativ eingreifen darf, wenn die Möglichkeit der Länder und Kommunen nicht ausreichen. Die Kommunen haben bewiesen, dass sie in der Lage sind, auch mit Inzidenzen von über 200 zurechtzukommen. Deshalb begrüßen wir die Verfassungsbeschwerde der Bundesvereinigung der Freien Wähler gegen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Die Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität ist eine Perspektive, die wir auf Bundesebene wieder in den Fokus rücken werden. Es wird die Aufgabe der Bundestagsfraktion sein, in Berlin Anwalt der Kommunen zu sein. Denn momentan scheint es so, dass Berlin zwar Gesetze macht, aber nicht mehr erkennt, wie diese auf der kommunalen Ebene administriert werden sollen. Wir brauchen in Berlin dringend einen Gesetzgeber, der die Situation der Kommunen und ihrer Menschen kennt und die Gesetze so gestaltet, dass sie der Situation vor Ort nicht nur dienen, sondern dort auch gelebt werden können.

"Nach meiner Überzeugung hat gerade der
säkulare Staat die vielfältigen Lebensverhältnisse
und Lebenssituationen der Menschen, die in
ihm leben, zum Wohle aller zu ordnen"

Viele Christen werden aber aufschrecken, wenn es in Ihrem Wahlprogramm heißt: „Wir stehen bei Schwangerschaftsabbrüchen zum gesellschaftlichen Konsens in Deutschland und wollen die bestehenden gesetzlichen Regelungen beibehalten.“ Überhaupt fällt auf, dass ihr Programm zu ethischen Fragestellungen lediglich den rechtlichen Status quo wiederholt. Das dürfte angesichts der Debatten um Suizidhilfe, Euthanasie oder Leihmutterschaft etwas wenig sein. Kann sich der Wähler verlassen, dass Sie nicht wie bei der „Ehe für alle“ umfallen?

Aus unserer Sicht war die Abstimmung über die Ehe für alle sinnvoll, denn große Teile der Bevölkerung unterscheiden heute nicht mehr zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft. Die langjährige Debatte wurde durch die Gewissensentscheidung im Bundestag beendet. Die Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaften ordnet zahllose gesetzliche Regelungen und dient dem Bürokratieabbau. Allerdings sind die FW auf Landes- und auch auf Bundesebene eine junge politische Kraft, die auf Grund ihrer Entstehungsgeschichte heterogen ist und ein sehr großes bürgerliches Meinungsspektrum abdeckt. Insofern kann der Prozess der politischen Meinungsbildung nie abgeschlossen sein. Nach meiner Überzeugung hat gerade der säkulare Staat die vielfältigen Lebensverhältnisse und Lebenssituationen der Menschen, die in ihm leben, zum Wohle aller zu ordnen – ungeachtet der jeweils persönlichen Sichtweise auf die sakramentale Ehe.

Derzeit scheint der Aufstieg der Grünen unaufhaltsam zu sein. Damit verbunden ist auch die sogenannte „Identitätspolitik“. Welche Position vertritt Ihre Partei zu diesem weltanschaulich aufgeladenen Thema?

Die von Bündnis 90 propagierte Ideologie teilen wir nicht. Als Identität stiftend sehen wir zunächst die eigene Familie und unsere Heimat mit ihren Sozialbezügen, ihren Menschen und ihrer Geschichte an. Gerade das Erkennen der eigenen Herkunft und der eigenen Historie lehrt uns, wer wir jetzt sind und was wir in Zukunft sein sollen. Die Sprache ist sicherlich ein Teil unserer Identität und auf die Sprache Goethes, Droste-Hülshoffs und Kants, aber auch jener von Heine, Kafka und Hannah Arendt dürfen wir zurecht stolz sein. Selbstverständlich müssen im Rechtsstaat Minderheitenrechte geschützt und garantiert werden. Allerdings haben die Minderheiten auch die Pflicht, am Gemeinwohl des Staates mitzuwirken – auch deshalb müssen sie die Kultur der Mehrheit respektieren. Als FW setzen wir uns für das größtmögliche Gemeinwohl ein.

Der „Green Deal“ ist in aller Munde. Dabei geraten lokale Belange des Naturschutzes häufig unter die Räder einer großen Vision, ebenso wie der Mensch eher als Problemfall gesehen wird. Wie muss aus Ihrer Sicht die ökologische Wende gestaltet werden – und was erwarten Sie sich von der Kirche und den Christen an Orientierung?

Wir müssen unsere Anstrengungen beim Klimaschutz ganz klar verstärken, denn Klimaschutz ist Zukunftsschutz. Darüber hinaus werden die fossilen Brennstoffe nur noch für dieses Jahrhundert reichen. Daher benötigen wir neue Energiequellen, um unseren zivilisatorischen Standard zu sichern. Der Kohleausstieg ist ein zentrales Element, um die CO2-Emissionen der Energieversorgung in Deutschland zu verringern und die international vereinbarten Klimaziele überhaupt erreichen zu können. Als FW wollen wir mehr klimafreundliche, sichere, verlässliche und saubere erneuerbare Energien dezentral in der Heimat für die Heimat produzieren. Gesellschaftlicher Konsens und breite Akzeptanz sind das Fundament für erfolgreiche Veränderungsprozesse. Das gilt ausdrücklich auch für die Energiewende. Wir wollen deshalb gesellschaftliche Teilhabe und mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen. Wir wollen eine Energiewende, bei denen Bürger und Kommunen als Gewinner hervorgehen, nicht als Benachteiligte. Der Ausbau der erneuerbaren Energieanlagen und die Energiewende gelingen nur, wenn wir mit unseren Lösungen die Akzeptanz von Bürgern, Kommunen und Wirtschaft erringen. Mit der Enzyklika „Laudato si‘“ hat Papst Franziskus ein umweltpolitisches Manifest aus dem Glauben heraus vorgelegt, das sich an alle Menschen wendet und das Orientierung und Leitfaden zum politischen Handeln ist. Die Erkenntnis, unsere Mutter, Schwester Erde, ist unser aller gemeinsames Haus, ist eine grandiose Verpflichtung für uns alle und ich würde mir wünschen, dass alle Christen aus dem Geiste von „Laudato si‘“ heraus leben und handeln. Denn „wir Christen sind außerdem berufen, die Welt als ein Sakrament der Gemeinschaft anzunehmen…“ (Laudato si‘ 9).


Florian Streibl (58) wuchs in Oberammergau auf und studierte Theologie und Rechtswissenschaften. Sein Vater war der bayerische Ministerpräsident Max Streibl (CSU). Streibl ist heute Rechtsanwalt und Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler im bayerischen Landtag.

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