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„Europa entzieht sich seiner Verantwortung für Afrika“

Der nigerianische Theologe und Ethiker Obiora Ike setzt auf einen internationalen „Mandela-Plan“ und auf den christlich-islamischen Dialog Von Stephan Baier
Landkauf in Afrika - Chance oder neuer Kolonialismus?
Foto: dpa | Nicht nur Malawi, fast der gesamte afrikanische Kontinent ist arm, obwohl er reich ist an natürlichen Ressourcen.
Herr Professor Ike, die Fluchtwellen 2015 und 2016 haben die innenpolitische Landschaft in vielen Staaten Europas durcheinander gewirbelt und die Solidarität zwischen den Ländern Europas erschüttert. Verstehen Sie, dass viele nun Angst haben, eine noch größere Fluchtwelle könnte in Europa anbranden – nämlich aus Afrika?

Das ist keine Angst, sondern eine Hysterie. Angst ist eine natürliche Gegebenheit, aber Hysterie wird aufgebaut. Was 2015 und 2016 geschah, war vorhersehbar: Man hat einen Krieg in Syrien begonnen, also mussten die syrischen Flüchtlinge sich in Sicherheit bringen. Aus humanitären Gründen muss man sie aufnehmen, aber jetzt kommen Politiker und Medien, die Flüchtlinge und Terror in einen Topf werfen. Zur gleichen Zeit gab es in Nigeria eine große Fluchtwelle wegen Boko Haram. Da haben drei Millionen Menschen ihre Heimat verlassen, die wurden in anderen Landesteilen aufgenommen, versorgt und unterstützt. Das kommt hier nicht in den Nachrichten. Auch Jordanien und der Libanon haben viele Flüchtlinge aufgenommen, ohne dass da viel Lärm gemacht wird. Europa muss sich fragen: Wer sind wir? Und was hat unser Christentum zu tun mit der Art, wie wir anderen Menschen begegnen? Gehen wir nur sonntags zur Kirche oder praktizieren wir unser Christentum auch dann, wenn es darauf ankommt?

Europa kann doch nicht alle Menschen aufnehmen, die unter Armut, Krieg, Bürgerkrieg, Verfolgung, Ungerechtigkeit, Korruption und Naturkatastrophen leiden.

Es gibt so viele Stimmen in Europa, die sagen: Wir können das machen! Nicht nur Bundeskanzlerin Merkel, sondern auch Bischöfe, Kardinäle und der Papst. Kriege und Katastrophen verlaufen nicht in geordneten Bahnen. Europa ist integrationsfähig, aber manche verbreiten derzeit eine Hysterie. Europa hat so viele leere Häuser und so viel Geld – man könnte noch zehn Millionen Menschen integrieren. Die Europäer bekommen keine Kinder, also wer soll die viele alten Menschen hier versorgen?

Die erwähnte Angst fokussiert sich auf eine Religionsgemeinschaft. Niemand fürchtet sich vor Obiora Ike oder vor einem melkitischen oder maronitischen Christen aus Nahost. Aber man fürchtet den Islam.

Nein, das stimmt gar nicht! Man fürchtet sich zum Beispiel vor Schwarzafrikanern, auch wenn sie nicht muslimisch sind. Aber auch der Islam ist in Europa durchaus zuhause, in Spanien seit vielen Jahrhunderten. In Großbritannien gehen freitags mehr Menschen in die Moschee als sonntags in die Kirche. Der Islam ist schon da! Aber Terrorismus ist nicht gleich Islam. Das Problem ist ein anderes: Teilen ist ein Fremdwort geworden. Wir leben in einer digitalen Welt, in der wir dem anderen virtuell begegnen wollen, aber nicht von Angesicht zu Angesicht. Die primäre Frage ist: Warum fliehen Menschen? Wegen Krieg und lebensbedrohlichen Situationen. Aber die Waffen werden von denselben geliefert, die nachher sagen, die Flüchtlinge sollen nicht zu uns kommen. Europa liefert ebenso Waffen wie Amerika und Russland.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten wenden nun viel Geld auf, um gegen Fluchtursachen anzugehen und afrikanische Staaten zu stabilisieren. Kann jetzt funktionieren, was in Jahrzehnten europäischer Entwicklungshilfe nicht funktionierte?

Ungerechtigkeit hat nichts mit Geld zu tun, sondern mit einer systematischen Methode. Wenn man Kolonien schafft, die Ressourcen der Völker ausbeutet, Klassengesellschaften baut und plötzlich Demokratisierung verlangt, dann kommt es zu Konflikten. Der europäische Kontinent kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen. Europa hat Afrika Gutes und Böses gebracht. So wurde der afrikanische Kontinent auf dem grünen Tisch in Berlin 1884/85 aufgeteilt. Da kann man nicht plötzlich sagen: „Jetzt müsst ihr mit euch selbst fertig werden.“ Entwicklungshilfe ist keine Einbahnstraße. Richtige Entwicklungszusammenarbeit bringt nicht nur die Regierungen, sondern die Kirchen, die Geschäftsleute und die Zivilgesellschaften an einen Tisch. Es bräuchte einen „Marshall-Plan mit Afrika“ – oder noch besser einen „Mandela-Plan mit Afrika“, denn das würden Afrikaner verstehen.

Viele Länder Afrikas wären aufgrund ihrer Ressourcen reich, werden aber von internationalen Konzernen und von eigenen Clans oder Diktatoren ausgebeutet.

Das stimmt. Die internen korrupten Eliten sind wie eine Seuche, wie ein Krebs im eigenen Leib. Aber diese Eliten haben eine internationale Vernetzung. Entwicklungshilfe ist ein falsches Wort, denn es wird nicht gespendet, wo nicht vorher genommen wurde. Es geht um ehrliches Teilen. Reichtum verpflichtet! Jeder Mensch, der leidet, hat ein Recht darauf, dass wir ihm helfen. Die Kirche muss ihre Stimme erheben für das, was richtig ist – nicht für das, was populistisch ist.

Was muss geschehen, damit die wachsende Jugend Afrikas ihren Lebenstraum in der eigenen Heimat verwirklichen kann?

Politisch, kirchlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich ist viel zu tun. Wir brauchen eine große Afrika-Konferenz, auch mit Geschäftsleuten aus Europa, Amerika und China. Der afrikanische Kontinent wächst, die Bevölkerungszahl wird sich in wenigen Jahren verdoppeln. Davor kann keine noch so hohe Mauer die Europäer schützen. Aber niemand verlässt seine Heimat gern. Afrika wäre reich an Ressourcen, braucht aber gute Regierungsführung. Die Konditionen für größere Kredite für afrikanische Unternehmen sind in Europa unmöglich. Dagegen gibt China Geld umsonst. Wir sind davon überrascht, weil wir mit Europa so eng verbunden sind!

Betreibt China – hungrig nach Rohstoffen und Absatzmärkten – da nicht eine Art Neo-Kolonialismus in Afrika?

Es sind immer nur Europäer, die das sagen. Die afrikanischen Länder sehen China nicht als Kolonialmacht. Europa wäre der am meisten willkommene Gast! Afrika sagt „Europa zuerst“, aber wenn die Europäer ihre Verantwortung nicht übernehmen, wer soll es dann machen? China baut Flughäfen und Brücken. Die Chinesen haben das Hauptquartier der Afrikanischen Union in Addis Abeba gebaut und es Afrika zum Geschenk gemacht. Warum soll man solche Geschenke nicht annehmen? Aber China ist für uns ein fremdes Land. Unser Partner wäre Europa, aber Europa entzieht sich seiner Verantwortung.

In manchen Ländern Afrikas, etwa in Ihrer Heimat Nigeria, gab es einst ein gutes Nebeneinander von Christen und Muslimen. Das ist schwieriger geworden. Liegt das nicht auch an ausländischen Einflüssen?

Saudi-Arabien verbreitet seine Propaganda mit sehr viel Geld in Afrika. Saudi-Arabien hat etwa Nigeria mit Geld in die „Organisation für Islamische Zusammenarbeit“ (OIC) gezwungen, obwohl Nigeria kein islamisches Land ist. Die Saudis kommen mit Geld, bringen ihre Bücher und bauen Moscheen. In unserer Hauptstadt Abuja wurde eine der größten Moscheen Afrikas gebaut. Der Iran und Ägypten gehen ähnlich vor. Viele Imame aus Mali, Senegal oder Gambia gehen nach Ägypten zur Ausbildung und kommen dann als Scharfmacher zurück. Saudi-Arabien, aber auch Ägypten, Kuwait und Bahrain machen aus der Religion des Islam eine politische Lehre. Der Nährboden für den Terrorismus ist Armut. Wenn die Menschen in Schulen gehen und Arbeit haben, verschwindet der Terrorismus. Söldner können rekrutiert werden, wo Menschen keine Arbeit haben.

Hat das Bemühen der Kirche Afrikas um den christlich-islamischen Dialog – Ihre Heimat Nigeria ist ein Beispiel dafür – vor diesem Hintergrund überhaupt einen Sinn?

Die Muslime leben überall in Nigeria – da in der Mehrheit, dort in der Minderheit. Die Christen ebenso. Überall, wo Religionsdialog praktiziert wird, gibt es keine Randaliererei. Dialog ist der Schlüssel zum Frieden! Der Dialog ist das Sinnvollste und funktioniert in Nigeria wie in anderen Ländern. Boko Haram steht nicht für den Islam, sondern ist purer Terrorismus. Mit Terroristen führt man keinen Dialog, sondern Terror muss man ausschalten, indem man seine Ursachen beseitigt.

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28.03.2024, 21 Uhr
Regina Einig