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Pascal Bruckner: Der weiße Mann als „Sündenbock“

Der Essayist Pascal Bruckner sieht einen Hauch von Dreißigern über der Zeit. Die Vorzeichen haben sich umgekehrt. Der weiße Mann ist jetzt die Ursache alles Schlechten.
Bruckner kritisiert in seinem jüngsten Buch die Rolle des alten weißen Mannes als Sündenbock.
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Pascal Bruckner kritisiert in seinem jüngsten Buch die Rolle des alten weißen Mannes als Sündenbock.

Für den französischen Intellektuellen Pascal Bruckner schwebt „der Hauch der Dreißigerjahre“ über der Gegenwart - nur in einem umgekehrten Sinne. Heute ist es der weiße Mann, der sich in der Hierarchie ganz unten befindet. Im Gespräch mit Atlantico.fr erläutert Bruckner seine These.

Bereits im Jahr 1983 diagnostizierte der in Frankreich bekannte Essayist und Romancier Pascal Bruckner die Schuldgefühle des Westens gegenüber seinem Verhältnis zur Vergangenheit und zum Erbe vorangegangener Generationen sowie das Auftreten einer Dritte-Welt-Philosophie, die schon vor 40 Jahren das heutige dekoloniale Denken vorausahnen ließ.

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Ein Wandel

In einem Gespräch mit der Nachrichtenwebseite Atlantico.fr schildert Bruckner den Wandel, der sich seither vollzogen hat. Zunächst, so stellt er fest, habe sich die Sprache verändert. Nunmehr „bringen wir unsere politischen Vorstellungen im Frenglish [analog zum deutschen Denglisch] – dem globalisierten Dialekt – zum Ausdruck“. Doch vor allem interessiere man sich nicht mehr für politische oder wirtschaftliche Strukturen – stattdessen kehre man zur Oberfläche zurück, die „alleinig die Qualitäten oder Makel eines Menschen charakterisiert. All das umweht ein zarter Hauch der Dreißigerjahre, allerdings mit einer interessanten Umkehrung: Es ist nunmehr der weiße Mann, der sich ganz unten in der Hierarchie befindet, die anderen Ethnien stehen an der Spitze der Rangordnung. Man ändert also nicht das System, sondern begnügt sich damit, die Figuren umzukehren“. So mache der heutige Antirassismus bisweilen beim kolonialen Denken Anleihen, aber auch beim Faschismus der Vorkriegszeit, dessen Konzepte er „vollständig übernimmt“.

Bei der Lektüre bestimmter nordamerikanischer oder auch französischer Theoretiker denke Bruckner „wieder an die Dekrete des Nationalsozialismus“. So behandelten beispielsweise bei antirassistischen Kundgebungen die Demonstranten schwarze Polizisten als „Verräter an ihrer Rasse. Doch diese Vorstellung des Verräters an der Rasse ist unmittelbar aus den Nürnberger Gesetzen hervorgegangen“, nach denen ein Arier, der eine sexuelle Beziehung mit einer Jüdin eingegangen war, sich des „Verrats an seiner Rasse“ schuldig gemacht hatte. Es gebe, so der Autor weiter, „einen Rassismus des Rechtsextremismus, aber auch einen Rassismus des Linksextremismus“.

Welt versklavt

In seinem neuen Buch „Un coupable presque parfait – La construction du bouc émissaire blanc“ (auf Deutsch etwa: „Ein beinahe perfekter Schuldiger – Die Konstruktion des weißen Sündenbocks“) kritisiert der 71-Jährige die heutige Rolle des alten weißen Mannes als „Sündenbock“: „Allein schon seine Hautfarbe ist ein Straftatbestand, er ist der leibhaftige Teufel, der Satan, der die Welt versklavt hat. Deshalb kann er auch nicht verschwinden“, und selbst wenn er für sein Weiß-Sein Sühne leisten und sich antirassistisch äußern wollte, bleibe er dennoch ein Rassist: „Was auch immer er tut, er ist im Unrecht, und das Gleiche gilt für weiße Frauen, wie manche Afrofeministinnen sagen“. Auf diesem Niveau bewege sich ein bestimmter ethnischer Antirassismus bereits, „der sich bis ins Denken hinein erstreckt, zumal es ein ‚weißes Denken‘ geben soll, und auch die Mathematik und die klassische Musik das reine Produkt der ‚weißen Vernunft‘ seien“, wie „prominente nordamerikanische Theoretiker“ heute behaupten“.

Vernunft als Hoffnung

Dennoch sei Bruckner nicht pessimistisch. Es gebe, so merkt er an, „einen Optimismus des Kampfes, der in sich die Hoffnung auf Triumph oder zumindest auf den Sieg über Dummheit und Intoleranz trägt. Die Umwelt ist heutzutage nicht schlimmer, als sie in den Fünfzigerjahren war, als ein Camus oder ein Aron in einer Intelligentia allein dastanden, die von Stalinisten und Sartre-Anhängern beherrscht war, die sich in dogmatischer Hinsicht gegenseitig Konkurrenz machten. Im Jahr 2020 nun haben wir die Neofeministen, die rassistischen Antirassisten sowie die oberflächlichen und bornierten Entkolonialisierer, und wir können ihnen mit der Waffe des Gelächters und des Spotts entgegentreten. Sehr viel gefährlicher ist jedoch die weltweite islamistische Bedrohung, die der Nazismus der heutigen Zeit ist: Dagegen reichen die Waffen der Vernunft nicht aus“. Für diesen „großen Kampf des 21 Jahrhunderts“ brauche es „Widerstand und Entschlossenheit“, ist sich Bruckner sicher. DT/ks

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