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Der lange Schatten des Peter Scholl-Latour

Afghanistan kollabiert innerhalb weniger Tage. Der Westen hat die Situation im Land nicht wahrhaben wollen und gab sich Illusionen hin.
Taliban erobern Kabul
Foto: Zabi Karimi (AP)

»Mit dreizehntausend der Zug begann, einer kam heim aus Afghanistan.« Seit Theodor Fontanes Vertonung der verheerenden Niederlage des britischen Empires in Afghanistan ist das Land als Blutmühle von Imperien bekannt. Wie den Briten erging es später den Sowjets. Ausgerechnet dieses unwirtliche, unbeherrschbare Land hatte der Westen zum Labor der Demokratie auserkoren. Das Experiment scheiterte lange vor dem Abzug des Westens.

Abzug und Vormarsch

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Den Abzug der Truppen Ende Juni begleitete bereits der Vormarsch der Taliban. Die hatten schon Jahre zuvor eine neue Schattenherrschaft aufgebaut. Im Mai beherrschten sie bereits einen größeren Teil Afghanistans als die Regierung. Ab Ende Juli fiel Provinzstadt um Provinzstadt. Noch vor einer Woche stand die Prognose, dass Kabul in 30 bis 90 Tagen fallen könnte. Am Sonntagmorgen standen die Koranschüler vor den Toren der Stadt. Am Abend floh Präsident Ashraf Ghani, die Taliban posierten in Regierungsgebäuden, eine Massenpanik brach am Flughafen aus. Zuletzt war Afghanistans Fall eine Sache von Tagen denn Wochen.

Die Bilder aus Kabul erinnern an die letzten Tage von Saigon. Die historische Fehleinschätzung verdeutlicht eine Pressekonferenz von US-Präsident Joe Biden im Juli. Die afghanische Regierung werde sich bewähren, mindestens bis zum Frühjahr. Nein, die Taliban-Eroberung sei nicht unausweichlich, es stünden ihr ja 300.000 gut ausgerüstete Männer der Regierungsarmee entgegen. Auch andere Kritikpunkte wischte Biden beiseite. Im Nachhinein erinnert die groteske Veranstaltung an die Darbietung des irakischen Außenministers, der 2003 immer neue Siege verkündete, während die amerikanische Invasionsarmee bereits im Hintergrund kämpfte.

Frühe Evakuierung

Außenminister Maas zur Lage in Afghanistan
Foto: Christoph Soeder (dpa) | Heiko Maas (SPD), Außenminister, gibt vor dem Auswärtigen Amt ein Statement zur Lage in Afghanistan ab.

Dennoch hinderte das die USA nicht daran, frühzeitig ihr Personal auszufliegen. Nach Informationen des Tagesspiegels bot man auch den Deutschen eine solche „Luftbrücke“ in letzter Sekunde an. Berlin lehnte ab. Außenminister Heiko Maas beantwortete kritische Fragen noch im Juni damit, eine Machtübernahme der Taliban sei nicht „Grundlage“ seiner Annahmen. Diese eklatante Fehleinschätzung könnte nun für die verbliebenen Deutschen am Hindukusch lebensgefährlich werden. Um das Versagen zu vertuschen, lautet die neue Diktion: der Fall Afghanistans sei unvorhersehbar gewesen.

Politische Weitsicht

Doch damit betrügt sich der Westen selbst. Die Journalistenlegende Peter Scholl-Latour prognostizierte genau das vor 20 Jahren. Schon damals legte er die Finger in die Wunde. Die Regierung: vom Westen geschmiert, kaum im Volk anerkannt. Die Freundlichkeit gegenüber den Befreiern: Gespielt. Die Armee: desertiert, sobald der Sold ausbleibt. 2014 erklärte der Franko-Deutsche im Außenausschuss des Bundestages den Einsatz für gescheitert. Konsequenzen? Keine.

Der alte, unbequeme Grantler hat wieder einmal Recht behalten. Heute, am 16. August, jährt sich sein Tod zum siebten Mal. Sein langer Schatten ruht auf dem gescheiterten Außenminister: hätte man auf ihn statt auf Ideologen gehört, säßen jetzt keine deutschen Mitarbeiter im Taliban-Staat fest. 

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