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Faruk Ajeti: "Der Balkan ist eine geopolitische Bühne"

Was Russen, Türken und Saudis in Südosteuropa suchen, und warum der stille chinesische Vormarsch für Europa bedrohlich ist, weiß der aus dem Kosovo stammende Politikwissenschaftler Faruk Ajeti vom "Österreichischen Institut für Internationale Politik" (OIIP).
Bürgerkrieg in Bosnien
Foto: epa (epa) | Umringt von Schutz suchenden Demonstranten erwidert ein bosnischer Soldat in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo das Feuer eines serbischen Heckenschützen (Archivfoto vom 06.04.1992).

Oberflächlich betrachtet ist die Region, die manchmal abschätzig Balkan genannt wird, ein vergessener Winkel Europas. Genauer betrachtet wollen alle hier Einfluss, Macht und Deutungshoheit gewinnen. Warum?

Entscheidend sind die geografische Lage, die Zusammensetzung der Bevölkerung aus Katholiken, Orthodoxen und Muslimen sowie die Neugründung von Staaten. Die regionalen Entwicklungen auf dem Balkan waren nie nur regional, sondern von geostrategischer und geopolitischer Bedeutung. Nach dem Zerfall Jugoslawiens ist der Einfluss der westlichen Mächte stärker als zuvor. Das ist gut, denn die nicht-westlichen Mächte - Russland, China und die Golfstaaten - haben keine demokratische Tradition.

Wie im 19. Jahrhundert scheint es um Dominanz und Hegemonie zu gehen: Jeder will etwas vom Balkan, keiner für diese Völker.

Das sehe ich anders. Es waren die westlichen Player, die in die Demokratisierung und Stabilisierung der Region investierten und Fortschritte brachten. Nach dem Kosovo-Krieg gab es erstmals die Idee, diese Länder in die EU zu führen. Die Amerikaner brachten die Idee eines Stabilitätspaktes, die EU öffnete eine Perspektive des Beitritts.

Es gab wohl große Ambitionen in Brüssel, aber seit 2004 wird vor einer Überdehnung der EU gewarnt. Heute gibt die EU Geld, aber eine zeitnahe Perspektive auf Beitritt existiert nicht. Schafft das Frustration?

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Seit Jahren verlagert sich der Schwerpunkt der Weltpolitik vom euro-atlantischen in den pazifischen Raum. Das hat ein politisches Vakuum auf dem Westbalkan hinterlassen. Die pro-westlichen Politiker der Westbalkanstaaten wurden enttäuscht und gedemütigt. Natürlich hängt die EU-Aufnahme davon ab, wie die Westbalkanstaaten sich entwickeln. Die Regierung Zaev in Nordmazedonien hat den 30-jährigen Konflikt mit Griechenland beendet, wurde dafür von der EU aber nicht belohnt. Kosovo hat alle Kriterien der Visaerleichterung erfüllt, aber die EU versagt.

Was bedeutet es, wenn die EU die Balkan-Region weiter im Wartesaal hält?

Die EU darf keine Signale an die Westbalkanstaaten senden, sich nach Alternativen umzusehen. Sie macht einen taktischen Fehler, wenn sie nur über Schwierigkeiten spricht, nicht über Erfolge. Die Nationen, die noch nicht der EU angehören, sollten nicht das Gefühl bekommen, Europäer zweiter Klasse zu sein. Wer die demokratischen Standards erfüllt, soll seinen Platz erhalten. Es gibt auch Rückschritte: Serbien ist heute weniger demokratisch als vor zehn Jahren. Das Demokratieniveau und die Pressefreiheit in Serbien sind heute schlimmer als in den 1990er Jahren.

Spielen da nicht Interessen angrenzender Mächte hinein? Offensichtlich nimmt man in Serbien gerne das Geld der EU, aber das Herz hängt an Russland.

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In Serbien hat sich noch keine wirklich europäische politische Klasse etabliert. Statt Vergangenheitsbewältigung überwiegt nationale Rhetorik. Seit der Unabhängigkeit des Kosovo ist die Region aber viel stabiler. Diese Stabilität kann noch gestärkt werden, wenn alle Westbalkanstaaten ihre Beziehungen normalisieren und für die EU-Mitgliedschaft zusammenarbeiten. An den Rückschritten trägt die EU Mitschuld, da sie duldet, dass Präsident Aleksandar Vucic einerseits die Demokratie in Serbien untergräbt, andererseits Serbien zur Drehscheibe der Ausbreitung von Autoritarismus macht. Die Serbisch-Orthodoxe Kirche spielt bei der Annäherung Serbiens an Russland eine große Rolle.

Instrumentalisiert Vucic den russischen Präsidenten Wladimir Putin - oder umgekehrt?

Beide sind Gewinner, und die EU ist der Verlierer. Vucic gewährt Russland viel Einfluss in Serbien. Es gibt gemeinsame Militär-Manöver. Serbien ist das einzige Land mit europäischer Perspektive, das Russland weder für die Krim-Annexion noch für die Unruhen in der Ostukraine kritisiert hat. Serbien stimmte im UN-Sicherheitsrat immer gegen die westlichen Länder und für Russland. Serbien ist das einzige Land mit EU-Perspektive, das ein Freihandelsabkommen mit Russlands Eurasischer Union unterzeichnete. Das ist nicht im Einklang mit der EU-Annäherung.

Was will Russland auf dem Balkan?

Putin will seine Macht ausweiten und die Balkanpolitik mitbestimmen. Er hat viel versucht, um die NATO-Erweiterung um Nordmazedonien und Montenegro zu verhindern. In Serbien gibt es ein serbisch-russisches humanitäres Zentrum, das unabhängig von den Serben agiert. Das Land ist von russischem Erdgas abhängig. Es geht um Geopolitik: Putin will die Balkan-Region als Transitroute für Gaslieferungen. Die slawische, historische und orthodoxe Dimension kommt hinzu, aber vor allem geht es Putin um die Ausweitung seiner Macht.

Ist das alles möglich, weil die EU keine starke Ordnungsmacht ist?

Die EU ist der stärkste Geldgeber, Investor und Partner. Mit dem Angebot des schrittweisen Beitritts versucht die EU, die Region zu mehr Fortschritt und Stabilität zu führen. Putin ist weder an unabhängigen Medien noch an Demokratie auf dem Balkan interessiert - im Gegenteil! Die von russischen Oligarchen kontrollierten oder Russland nahestehenden Medien versuchen die Botschaft zu verkaufen, dass die EU schwach und am Zerfall sei.

Wie Putin unter Bezug auf Orthodoxie und slawische Verwandtschaft Einfluss nimmt, tut dies Erdoan unter Bezug auf den Islam und die osmanische Vergangenheit. Sehen Sie Parallelen zwischen der Einflussnahme Russlands und der Türkei?

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Die Balkanregion ist eine geopolitische Bühne und ein Marktplatz geworden. Russen und Türken beziehen sich auf religiöse, geschichtliche und sprachliche Beziehungen und behaupten gleiche Werte. Tatsächlich geht es um Interessen und Machtausweitung. Seit Erdoan die Macht in der Türkei 2002 übernommen hat, betreibt er eine proaktive türkische Balkanpolitik mit religiösen Dimensionen und mit dem Anspruch, Schutzherr der Muslime zu sein.

Wie groß ist der türkische Einfluss auf die Muslime in Südosteuropa?

Sehr stark. In den 1990er Jahren hat die Türkei viel zur Stabilisierung der Region beigetragen und - anders als Russland - die westliche Politik mitgetragen. Die Türken gehen nicht nur über wirtschaftliche und staatliche Kanäle, sondern auch über kulturelle und religiöse. Türkische Universitäten öffneten die Türen für Studenten aus Südosteuropa. Das ist nicht a priori schlecht, sondern nur dann, wenn die säkulare Gesellschaft und ihre europäischen Werte untergraben werden.

Wie groß ist die Einflussnahme des Iran und der Golfstaaten auf dem Balkan?

Das ist nicht zu unterschätzen und die größte Gefahr für Staaten mit muslimischer Bevölkerung. Nach dem Bosnien-Krieg gab es viele religiöse NGOs, die ihren Einfluss entfalteten, Moscheen aufbauten und radikale Prediger entsandten. Die Verbreitung von salafistischen und wahhabitischen Strömungen gefährdet die Identität des Islam in der Region, denn sie versuchen, die Gesellschaften und ihre islamische Tradition zu verändern.

Geht es den Saudis, Iranern oder Golfstaaten um Macht oder um Religion?

Sie sind an religiöser Ideologie und kultureller Einflussnahme interessiert. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Großinvestitionen der Golfstaaten.

Anders als Europa, die Türkei und Russland hat China keine historische Verbindung zum Balkan. Doch Pekings Präsenz wächst.

Russen und Türken beziehen sich auf kulturelle, geschichtliche und religiöse Gemeinsamkeiten. China weitet einfach seine Macht und seinen Einfluss in Europa aus. Es hat die Euro-Krise geschickt genutzt, sich als Helfer präsentiert und Schlüsselsektoren übernommen. Pekings Strategie der Machtausbreitung besteht darin, stark zu investieren und Länder von China abhängig zu machen. So haben Griechenland, Serbien, Ungarn und die Türkei in der Frage der Uiguren im UN-Menschenrechtsrat für China gestimmt. Das ist eine Folge des chinesischen Einflusses in der Region. Das beste Beispiel ist Montenegro: Die dortige Regierung hat einen Vertrag über 1,3 Milliarden Euro unterzeichnet über den Ausbau der Autobahn; fast eine Milliarde kam von staatlichen chinesischen Banken. Wenn Montenegro seine Kreditraten nicht zahlen kann, übernimmt China das Projekt. China gibt nicht Subventionen, sondern Kredite.

Warum führen europäische Politiker ihre Länder sehenden Auges in die Abhängigkeit von China?

Faruk Ajeti
Foto: Stephan Baier | Faruk Ajeti ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Internationale Politik in Wien.

Die EU-Politiker waren so naiv zu meinen, es handle sich nur um Geschäfte. Aber es gibt dahinter eine Strategie. Es sollte Jahre dauern, bis die EU im März 2019 China erstmals nicht nur als "Kooperations- und Verhandlungspartner" sah, sondern auch als "wirtschaftlichen Wettbewerber" und "systematischen Rivalen". Im Gegensatz zu den Russen waren die Chinesen in ihrem Vormarsch lautlos. Die Kommunistische Partei Chinas ist eine Gefahr für die Demokratie und liberale Gesellschaften.

Nehmen Moskau und Ankara China als Konkurrent auf dem Balkan wahr?

Definitiv, aber die Chinesen sind sehr geschickt. Sie versuchen zu verkaufen, dass sie nur Geschäfte machen wollen, ohne sich in anderes einzumischen. Aber bei allem, was sie machen, ist alles "Made in China": chinesische Kredite, Materialien, Arbeiter, Firmen. Alles, was gebraucht wird, wird aus China gebracht. Aus China wird auch das digitale autoritäre Modell gebracht. Für lokale Politiker wie Vucic ist dies ein Geschenk. Wenn der serbische Präsident die chinesische Fahne küsste, war das alles andere als Naivität. Die Zukunftsfrage ist, wer wird der Nächste in Europa sein, der die chinesische und nicht die europäische Fahne küsst? Man kann China als eine Macht in Europa bezeichnen.

 

 

 

 

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Stephan Baier

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