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„Das erste Opfer des ,Islamischen Staates‘ ist der Islam“

Der katholische Erzbischof von Bagdad, Jean Benjamin Sleiman, erinnert Europa an seine Verantwortung und lehnt „Schutzzonen“ speziell für Christen ab Von Stephan Baier
Foto: dpa | Das Archivfoto von 2014 zeigt Muslime, die in der Al-Noori Al-Kabeer Moschee in Mosul unter einer Flagge des IS beten.
Die irakischen Truppen sind dabei, die letzten Stadtteile von Mosul aus der Hand des „Islamischen Staates“ (IS beziehungsweise auf Arabisch Daesh) zurückzuerobern. Haben Sie die Hoffnung, dass der IS bald besiegt ist?

Ich hoffe es. Aber wie Sie wissen, ist Daesh nicht nur in Mosul, sondern auch in Syrien und in Teilen des Irak. Auch ist Daesh ein wenig überall infiltriert. Daesh ist ein Instrument, das für andere arbeitet. Jener, der Daesh lenkt, den sieht man nicht – und er befindet sich auch sicher nicht in Mosul.

Können die Christen jetzt zumindest in ihre traditionellen Gebiete, etwa in die Ninive-Ebene, ohne Gefahr zurückkehren?

Das ist eine ganz wichtige Frage. Viele wollen zurück und ihre Häuser aufbauen, aber es ist die Frage, ob sie es auch können. Die Ninive-Ebene ist eine Region, um die viele streiten: Kurden und Araber, Sunniten und Schiiten. Das ist sehr komplex. Wird es einen Konsens geben oder nicht? Wird das Gebiet weiter vom Zentralstaat abhängen oder nicht? Viele haben Angst vor dem, was nach der Befreiung passiert. Es gibt etwa eine Schiitenmiliz, die ein traditionelles Jesiden-Gebiet von Daesh befreit hat, um es den Jesiden zurückzugeben. Aber es gibt andere, die auf dem Standpunkt stehen: Was wir befreit und erobert haben, das gehört auch uns.

Können die irakischen Christen nach allem, was ihnen angetan wurde, wieder vertrauensvoll mit muslimischen Nachbarn zusammenleben? Manche kollaborierten mit den Terroristen, viele vergriffen sich am Eigentum der Christen.

Daesh ist nicht nur eine Organisation, sondern auch eine spezielle Übersetzung einer gewissen islamischen Vision. Da gibt es viele Sympathisanten, die es für eine gute Sache halten, weil hier die Scharia umgesetzt werde. Und dann hat das auch noch diesen Mafia-Charakter: Man raubt das Eigentum anderer und gibt es nicht mehr zurück. Viele zurückkehrende Familien haben ihre Häuser besetzt vorgefunden, oder sie wurden gestört und belästigt. Selbst wenn die Regierung verspricht, den Christen die Häuser zurück zu geben, ist es nicht sicher, dass das auch geschieht. Es gibt also als Hindernisse einerseits ideologische Probleme, andererseits Eigentumsfragen. Deshalb ist das Vertrauen so ein großes Problem.

Dazu kommt ein Problem der Mentalität. Für viele Muslime gelten die arabischen Christen als illoyale Bürger und als Agenten des Westens.

Ja sicher, das ist ein Problem. Es hat sich seit dem Fall des Regimes von Saddam Hussein 2003 ein islamistischer Fundamentalismus ausgebreitet wie die Pilze im Wald. Es gibt dafür auch andere Gründe, die tief in der Geschichte wurzeln. So gibt es etwa ein Verhaltensmuster bei den Beduinen: Wenn sie die Hand auf etwas gelegt haben, wollen sie es nicht mehr zurückgeben. Das ist eine alte Einstellung, die kulturell weiter präsent ist. Nach dem Fall des Regimes 2003 sind viele Christen geflüchtet, und andere Leute – Menschen aus den Provinzen, aber auch Politiker – haben ihre Häuser okkupiert.

Auch viele Muslime in Syrien und im Irak leiden unter dem „Islamischen Staat“ (Daesh) und anderen Terrorgruppen. Führt dieses Leid zu einer inner-islamischen, kritischen Reflexion und zu einer Debatte über das Verhältnis von Religion und Gewalt?

Auch das ist eine sehr wichtige Frage. Lassen Sie mich mit dieser Frage beginnen: Was ist Daesh? Der Architekt des „Islamischen Staates“ ist nicht arabisch oder muslimisch, sondern eine außerordentliche Intelligenz, die den Islam und den Mittleren Osten sehr gut kennt. Der Gründer, Konstrukteur und Architekt hat sich muslimischer Baumaterialien bedient. Ich glaube, dass das erste Opfer des „Islamischen Staates“ der Islam ist. Der Islam wird hier instrumentalisiert, aber leider haben das die Muslime nicht verstanden. Wäre ich Muslim, so hätte ich gegen Daesh gekämpft, um den Islam zu retten. Gibt es heute eine kritische Reflexion? Ja, aber nicht sehr verbreitet. Man kritisiert nur mit leiser Stimme, weil viele Angst haben. Es gibt viele Menschen, die leiden und weg wollen, die einen Sinn für Freiheit haben und nicht wegsehen können angesichts dessen, was beispielsweise in Mosul geschah. Viele sunnitische Muslime sind Opfer von Daesh geworden, etwa eine Ärztin, die sich weigerte, das Kopftuch zu tragen und deshalb ermordet wurde. Andere haben sich direkt gegen diese Bewegung gestellt. Ganze Familien wurden umgebracht. Viele Opfer waren Muslime! Die Christen wurden vor die Wahl gestellt, entweder Muslime zu werden, oder den Status des Dhimmi zu akzeptieren und Schutzsteuer zu zahlen, oder zu verschwinden und allen Besitz zurückzulassen. Die Jesiden allerdings mussten einen hohen Blutzoll zahlen: Männer wurden umgebracht, Frauen wurden gekidnappt und für zehn Dollar verkauft. Seit meiner Jugend beschäftigt mich der Zusammenhang von Religion und Gewalt. Viele Muslime sagen zwar, der Terrorismus von Daesh sei zu verurteilen, aber sie wagen nicht, Daesh als unislamisch zu verdammen und den Zusammenhang zwischen bestimmten Koranversen und deren Handlungen zu leugnen. Niemand sagt, das seien keine Muslime.

Ist Daesh nicht einfach eine Neuauflage der wahhabitischen Ideologie?

Das ist ein politisches Instrument, um den Mittleren Osten zu destabilisieren. Diese Ideologie bedient sich der islamischen Religion. Ausgewählt wird aus der Religion nur das Fanatische und Gewaltsame, das Exzessive und Extreme, darin eben liegt eine teuflische Intelligenz. Religion macht keinen Krieg, sie wird hier bloß als Instrument verwendet. Es gibt aber leider viele religiöse Menschen, die sich freuen, weil sie meinen, etwas zu gewinnen. Aber das ist nicht der Fall. Es gewinnen nur Fanatismus und Gewalt, denn es geht um ein politisches Ziel. Und wenn man es erreicht hat, wird man auf die Religion vergessen.

US-Präsident Donald Trump ist stolz, mit Saudi-Arabien einen Waffen-Deal in Höhe von mehr als 100 Milliarden Dollar abgeschlossen zu haben. Destabilisiert die Aufrüstung Saudi-Arabiens die Region nicht noch mehr?

Er hatte gesagt, dass die ökonomische Logik für ihn Vorrang hat, nun kam er zurück und hatte Geld in der Hand. Die Destabilisierung der Region ist kein neues Ziel, sondern schon sehr lange der Fall. Die Waffen gehen an Saudi-Arabien. Wofür braucht Riad diese Waffen? Wir müssen nur fragen: Woher bekommen die Rebellen in Syrien ihre Waffen? Wer kämpft im Jemen mit welchen Waffen? Beim „Arabischen Frühling“ hat man von Anbeginn an den Nahen Osten destabilisiert. Ich merkte gleich, dass da etwas passiert, was weder arabisch noch islamisch ist. Es ging darum, die Muslimbruderschaft an die Macht zu bringen und die Region zu destabilisieren.

Die Christen im Irak waren ab der Intervention 2003 bedrängt durch Chaos, Terror, Entführungen und Gewalt. Seit damals gibt es eine anhaltende Emigration. Was muss heute geschehen, damit die letzten verbliebenen irakischen Christen in ihrer Heimat bleiben können?

Man muss die Kriege stoppen und anders zu arbeiten beginnen. Europa kann da eine große Rolle spielen, denn es gibt eine lange Geschichte des Dialogs und der Solidarität Europas mit dem Nahen Osten. Europa sollte nicht einfach der NATO oder den Vereinigten Staaten von Amerika folgen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat jüngst davon gesprochen, eine andere Art der Politik zu finden. Das ist wichtig! Europa muss auch vereint bleiben! Wir müssen den arabischen Staaten helfen, Rechtsstaaten zu werden. Der Rechtsstaat schützt alle, nicht nur einige. Gerechtigkeit ist eine Aufgabe des Staates. Je schwächer der Staat ist, desto stärker sind Tribalismus und Stammesdenken. 2003 wurde der Irak ja auf der Grundlage konfessioneller und ethnischer Mini-Staaten neu gegründet. Dadurch wurden die Christen an den Rand gedrängt.

Immer wieder ist die Rede von „Schutzzonen“ beziehungsweise „autonomen Gebieten“ für Christen und Jesiden. Halten Sie solche Reservate für Christen für sinnvoll? Oder führt das zu einer Ghettoisierung?

Das ist keine effiziente Lösung, denn das kann dazu beitragen, dass die Christen weiter aus der Region verschwinden. Wir brauchen einen Staat mit echter Bürgerschaft, wo alle Staatsbürger gleiche Rechte und gleichen Schutz haben, und der Minderheiten wie Mehrheiten schützt. Es gibt sogar Bischöfe, die Schutzzonen fordern. Aber diese Zonen sind nicht verteidigbar.


Hintergrund:

Der 1946 in Ghalboun geborene Libanese Jean Benjamin Sleiman trat in den Karmelitenorden ein und studierte Theologie und Sozialwissenschaften an der Katholischen Universität des Westens von Angers sowie an der Sorbonne in Paris. 1973 wurde er in Beirut zum Priester geweiht. Nach Jahren als Universitätslehrer in Beirut und Rom ernannte ihn Papst Johannes Paul II. im November 2000 für die Katholiken des lateinischen Ritus zum Erzbischof von Bagdad. Bereits 2009, also noch vor dem Wüten des sogenannten „Islamischen Staates“, den die Araber „Daesh“ nennen, erschien im Echter Verlag sein Buch „Der Aufschrei des Erzbischofs von Bagdad“ – ein dramatischer Appell, in dem er den Niedergang des Christentums im Irak skizzierte.

Nach Schätzungen von „Missio“ und „Kirche in Not“ haben seit dem Sturz Saddam Husseins rund 66 Prozent der irakischen Christen ihre Heimat verlassen. Vor 2003 lebten zwischen 800 000 und 1,2 Millionen Christen im Irak. Heute sind es zwischen 250 000 und 400 000. Nicht nur sie und die religiösen Minderheiten der Jesiden und Mandäer hoffen auf ein baldiges Ende des IS-Terrors. DT

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