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Das Ende des Westens, wie wir ihn kennen 

Der Westen verliert in Afghanistan Ansehen und Autorität. Das ruft seine Gegner auf den Plan. 
Afghanistan - Flughafen Kabul
Foto: - (AP) | US-Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen. Die Evakuierungsmaßnahmen sind nicht nur für die USA ein Desaster. Der Flugverkehr musste sogar zeitweise eingestellt werden.

Der spektakuläre Fall Kabuls am letzten Wochenende ist eine Zäsur. Am Anfang des Afghanistan-Einsatzes stand das Trauma von 9/11. Am Ende steht das Trauma einer demütigenden Flucht. Die Bilder vom Himmel fallender Menschen – zuerst von den oberen Stockwerken des World Trade Centers, zuletzt von den Fahrwerkklappen eines C-17 Jets – rahmen das amerikanische Abenteuer am Hindukusch ein. Nicht nur Erinnerungen an Saigon werden wach, sondern auch an den Sieg der Islamischen Revolution in Teheran – und die Niederlage der Sowjets in Afghanistan. 

Das Desaster

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Die Evakuierungsmaßnahmen sind nicht nur für die USA ein Desaster. Die Mission in Afghanistan war als NATO-Einsatz ein Krieg der westlichen Zivilisation, den alle Beteiligten verloren haben. Wäre das Ziel, wie US-Präsident Joseph Biden behauptet, nur die Zerschlagung von Al-Quaida oder die Tötung Osama bin Ladens gewesen, dann hätten sich die USA und ihre Verbündeten nicht zwei Jahrzehnte in den wilden Pässen des Landes behaupten müssen. Der Westen wollte mehr – und hat versagt. 

Nicht die Realität

Bilder und Narrative bilden nicht zwangsläufig die Realität ab. Sie haben jedoch eine eigene Wirkmächtigkeit – besonders in jenen Teilen der Welt, die nicht verlernt haben, ihre Umwelt über Zeichen und Mythen zu deuten. Die USA wirken wie ein wortbrüchiger Verbündeter; die NATO-Staaten wie planlos, überrumpelt und überfordert. Die Unfähigkeit, Ortskräfte aus dem Taliban-Staat zu schleusen wird anderen Völkern eine Lehre sein, bevor sie wieder mit westlichen Mächten zusammenarbeiten. Und China wie Russland werden genau beobachtet haben, wie der Westen agiert oder reagiert hat. 

Kollabierte Integrität

Die Bildersprache ist eindeutig: am letzten Wochenende ist die moralische Integrität des Westens zusammen mit der afghanischen Regierung kollabiert. Seine Autorität hat gelitten. Die einstige Supermacht erscheint als Papiertiger. China nimmt das zum Anlass, in Taiwan auszutarieren, wie ernst die Amerikaner es mit ihrem Weltpolizistenrang noch meinen. Moskau dürfte ähnliche Machtspiele in der Ukraine testen. 

Nach dem Ende des britischen und sowjetischen Reiches hat Afghanistan sein drittes Opfer gefordert. Die USA sind überlastet, die Verbündeten kopflos. Es könnte das Ende des Westens sein, wie wir ihn kennen. Die Übergangszeit, die nach dem Zerfall der Sowjetunion begann, und die USA als einzige, überwältigende Macht des Planeten zurückließ, dürfte endgültig vorbei sein. 

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Marco Gallina Terroranschläge am 11. September 2001

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