Die Logik ist bekannt: Wenn der Neue in der Klasse sich zum Wortführer aufschwingen will, muss er spätestens am zweiten Tag mit Kennerblick den Stärksten identifizieren, ihn am Schulhof vor maximalem Publikum brutal anrempeln und ihm lautstark Prügel androhen. Was dann folgt, entscheidet über die künftige Rangordnung.
Biden: Putin wird einen Preis bezahlen
Genauso ist US-Präsident Joe Biden vorgegangen, als er am Mittwoch bestätigte, er halte den russischen Präsidenten für einen Mörder, und drohte, für die russische Einmischung in die jüngsten US-Wahlen werde Wladimir Putin „einen Preis bezahlen“. Das alles kommunizierte er nicht elegant auf diplomatischen Kanälen, sondern auf dem Schulhof der Weltpolitik – im Fernsehen.
Wer das als rhetorische Inkontinenz des ältesten US-Präsidenten aller Zeiten abtut, hat die Logik der Sache (siehe oben) nicht verstanden. Joe Biden hat ein Signal gesetzt. Die Botschaft lautet: Ab sofort spielt Washington weltpolitisch wieder die erste Geige. Kein Deal, kein Augenzwinkern. Wir definieren die Regeln.
Die EU setzt bislang nur Nadelstiche
Auch die Europäische Union hat ihre Illusionen über Wladimir Putin längst über Bord geworfen. Auch die EU sagt heute offen, was sie seit Jahren belegen kann: dass der Kreml mit massiven Desinformationskampagnen versucht, die Gesellschaften in Europa zu polarisieren und zu spalten, Wahlen und Referenden (etwa die Brexit-Abstimmung) zu beeinflussen – finanzielle Unterstützung für nationalistische Gruppen inklusive.
Aber die EU setzt bisher nur Nadelstiche gegen Putins Umfeld. Den Stärksten auf dem Schulhof öffentlich anzurempeln, das wagte sie bislang nicht. Jetzt kann sie nur dabei zusehen, wie Moskau auf Joe Bidens gezielte Provokation reagiert, und ob es zur großen Prügelei kommt. Niemand in Europa will einen neuen Kalten Krieg, aber die Einsicht wächst, dass dem machthungrigen Putin Grenzen gesetzt werden müssen.
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