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Robin Alexander: „Angela Merkel hält nicht viel von Diskurs“

Von der Corona-Krise bis zum Unionsstreit: Robin Alexander hat die letzte Phase der Ära Merkel in seinem neuen Buch analysiert. Im Interview spricht er darüber, wie er die Lage vor der Bundestagswahl einschätzt.
Coronavirus - Beratungen von Bund und Ländern
Foto: Michael Kappeler (dpa/Pool) | Neuerdings ein Team: Bundeskanzlerin Angela Merkel (l., CDU) und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (r., CSU) bei einer Pressekonferenz nach einer Ministerpräsidentenkonferenz Ende März.

Herr Alexander, in Ihrem Buch zeichnen Sie ein politisches Sittengemälde der letzten Monate. Sie haben darüber die Überschrift „Machtverfall“ gesetzt. Sie konstatieren diesen Verfall mit Blick auf die Bundeskanzlerin, aber auch auf deren Partei, die darum ringt, ihren Status als letzte Volkspartei zu behalten. Die Corona-Krise erscheint dabei als der Faktor, der diese Entwicklungen forciert und vorangetrieben hat. Wieso können diese parallel nebeneinander ablaufenden Prozesse am besten aus der Perspektive der Macht im Zusammenhang betrachtet werden?

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Ich verstehe Macht im Sinne von Niklas Luhmann: Macht ist, andere Menschen in sozialen Zusammenhängen dazu zu bringen, etwas zu tun, was diese nicht tun wollen. In diesem Sinne war Merkel in der Corona-Krise mächtiger denn je: Denn sie hat uns dazu gebracht, unsere Kinder nicht mehr zur Schule zu bringen, nicht mehr zur Arbeit zu gehen und unsere alten Eltern nicht mehr zu besuchen. Gleichzeitig ist ihre Form der Machtausübung endgültig an ihr Ende gekommen: Die mächtigste Politikerin hat beklagt, dass die Ministerpräsidentenkonferenz, also das nicht im Grundgesetz vorgesehene Gremium, mit dem sie ihre Pandemiepolitik betrieben hat, nicht das beschlossen hat, was notwendig gewesen wäre.

Wie würden Sie den Merkel-Modus der Machtausübung beschreiben?

Der Ansatz, dem sie in der Corona-Krise gefolgt ist, war schon in ihrem früheren Regierungsstil angelegt. Den Nachtsitzungen der Regierungschefs in der Euro-Krise, Die Entscheidungen wurden dort getroffen, nicht im Europa-Parlament. Das gleiche Verfahren auch während der Flüchtlingskrise. Und jetzt wieder vor der Verkündung der sogenannten „Osterruhe“.

Steht diese Art der Machtausübung nicht in einem krassen Gegensatz zu dem Bild, das die liberalen Merkel-Fans von der Kanzlerin zeichnen?  Was sagt das über das Menschenbild der Kanzlerin aus?

"Angela Merkels Menschenbild mit seiner Skepsis
gegenüber dem Individuum ist im Grunde sehr konservativ.
Nur ist das im Land lange so nicht erkannt worden"

Angela Merkel hält nicht viel von Diskurs im Sinne von Jürgen Habermas. Ihr Ziel ist es, Sachverhalte in ihrem Sinne zu objektivieren und so dem Diskurs zu entheben. Sie will über den Verlauf der Debatte die Kontrolle behalten. Hier ist sie eine uneingestanden Anhängerin Martin Heideggers, der sagte: Das Licht der Öffentlichkeit verdunkelt alles. Denn eine öffentliche Debatte mit frei vorgetragenen Argumenten gefährdet das, was aus ihrer Sicht durch sie objektiviert und versachlicht wurde und damit nicht mehr verhandelbar ist. Das sagt tatsächlich etwas über ihren Blick auf den Menschen aus. Dieses Menschenbild mit seiner Skepsis gegenüber dem Individuum ist im Grunde sehr konservativ. Nur ist das im Land lange so nicht erkannt worden.

Die Corona-Krise hat also in gewisser Weise zu einer Entzauberung der Kanzlerin geführt?

Ihre Methode ist an ein Ende gekommen. Zuletzt musste die Pandemiepolitik mit der „Bundesnotbremse“ doch parlamentarisiert werden. Armin Laschet, der von Anfang an, eine breite Debatte zulassen wollte, hatte nicht verstanden, warum er plötzlich in Opposition zu Frau Merkel geraten ist. Er wollte, dass Politik offen kommuniziert wie sie abwägt ... Aber Frau Merkel will das eben so nicht.

Kann es aber sein, dass Frau Merkel mit dieser Diskurs-Skepsis letztlich der Grundstimmung der deutschen Bevölkerung näher ist als Armin Laschet? Nur dass in der Corona-Krise nicht sie, sondern Markus Söder davon profitiert hat?

Dass der Macht-Modus von Frau Merkel bisher so erfolgreich war, war sicherlich kein Zufall. Man sieht das etwa daran, wie unterschiedlich über die „Ehe für alle“ in Europa gestritten worden ist. Großbritannien: Premierminister David Cameron hält beim Tory-Parteitag eine Rede, in der er ausführt, dass sich das Eheverständnis geändert habe. Dann stellt er einen entsprechenden Antrag. Dann werden darüber beim Parteitag Argumente ausgetauscht und am Ende entscheidet eine Mehrheit. Das war echt britisch.

Frankreich: Die Regierung bringt ein sehr weitreichendes Gesetz ein, in dem sogar von Elternteil 1 und Elternteil 2 gesprochen wird. Dann gibt es eine Welle von großen Gegendemonstrationen. Schließlich modifiziert die Regierung das Gesetz und es wird vom Parlament beschlossen. Viel Pose und ein bisschen Revolution – das war echt französisch. Und bei uns? Jahrelang tut Frau Merkel in der Frage der „Ehe für alle“ überhaupt nichts. Dann gerät ihr das Thema im Wahlkampf 2017 außer Kontrolle und plötzlich muss alles ganz schnell gehen. Die Debatte vor der endgültigen Bundestagsentscheidung dauerte keine 45 Minuten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie unter Rot-Grün über das Gesetz über gleichgeschlechtliche Partnerschaften gestritten worden ist. Da sind die Verteter von Homosexuellenverbänden noch zu Diskussionen in katholischen Akademien gekommen, um sich Gegenargumenten zu stellen. Diesmal nichts davon. Die Diskussionskultur ist defizitär.

Warum verstehen sich Markus Söder und Angela Merkel plötzlich so gut?

"Mit der Kanzlerin verbindet Söder
das rein instrumentelle Verhältnis zur Politik"

Mit der Kanzlerin verbindet Söder das rein instrumentelle Verhältnis zur Politik. Das ist eine sehr wertfreie und letztlich extrem moderne Vorstellung von Politik. Konservative Unionspolitiker, das ist auch bei Armin Laschet so, sehen in der Union eine Parteifamilie. In so einer Familie muss man nicht alle mögen. Aber irgendwie gehören doch alle zusammen und darauf muss man Rücksicht nehmen. Das sieht Merkel nicht so. Und bei Söder ist das auch so. Kennen Sie irgendeinen Minister aus der Landesregierung von ihm? Da gibt es nur Söder. Und bei der Kanzlerin? Auch bei ihr sticht kein Minister hervor, mit Ausnahme von Wolfgang Schäuble, der war ein Sonderfall.

Nun hat aber Laschet den Machtkampf gegen Söder gewonnen. Söder hat ihn ja schon als „Helmut Kohl 2.0.“ bezeichnet. Werden sich mit ihm die Machtverhältnisse in der Union wieder ändern?

Laschet ist in der Tat ganz anders. Er sieht sich als Vorsitzender eine Parteifamilie. Und er will eine Truppe aufstellen, die die ganze Breite der Union abbildet. So ist auch zu verstehen, dass er schon Friedrich Merz in seine Mannschaft aufgenommen hat. Aber er steht vor zwei Problemen: Wo sind denn überhaupt noch Personen, die diese unterschiedlichen Flügel repräsentieren? Wo sind denn die Stoltenbergs, Dreggers oder Blüms, die es ja bei Helmut Kohl noch gab? Das führt dazu, dass heute schon ein Innenminister wie Herbert Reul in NRW als Konservativer firmieren muss. Das zweite Problem: Wie geht Laschet mit den Merkel-Ministern um? Darunter sind ja einige alte Weggefährten von ihm wie etwa Peter Altmaier. Der hatte sich im Kampf um die Kanzlerkandidatur plötzlich auf die Seite von Söder gestellt, weil er um seine Position als Wirtschaftsminister gefürchtet hat. Laschet versucht diese Probleme zu umgehen, indem er darauf setzt, Zeit zu gewinnen. Erst am 20. Juni will er ein Wahlprogramm vorstellen. Man muss aber auch sagen: Hier zeigt sich eine Stärke Laschets. Er kann ertragen, wenn ihm gesagt wird: „Ihr habt immer noch kein Programm.“ Er sitzt das einfach aus und sagt sich, zwei Tage später ist das wieder vergessen.

Das bedeutet aber dann doch letztlich: Es gibt wieder keine Diskussionen.

Es gibt Debatten, die einfach jetzt geführt werden müssen. Und zwar so, dass nicht gleich bestimmte Positionen als rechts, links oder einfach böse ausgeklammert werden. Das hat sich in der Corona-Krise gezeigt: Beispiel Datenschutz: Die Corona-App ist gescheitert, weil darüber so diskutiert worden ist, als ob es sich um die Volkszählung von 1987 handeln würde. Das funktioniert nicht mehr.

Zum Schluss noch eine Frage zum Ansatz Ihres Buches: Steht es für eine neue Art des politischen Journalismus? Sie erzählen. Vor dem Leser entfaltet sich so die Politik der letzten Monate in einem großen Gesamtpanorama. Ein Urteil muss aber der Leser selbst treffen. Ist das beabsichtigt?

Ich habe mich darum bemüht, die Ereignisabläufe so darzustellen, dass sie auch für Menschen lesbar sind, die sich nicht rund um die Uhr mit Politik beschäftigen, sondern sich in ihrer wenigen Freizeit einen Überblick verschaffen wollen. Ich will verstanden werden. Zu meiner Methode: Ich habe mit vielen Beteiligten gesprochen. Meine Bitte war dann immer: Erzählen Sie nach, wie dieses oder jenes Ereignis verlaufen ist. Diese Mosaiksteine habe ich dann zusammengefügt.

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Sebastian Sasse

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