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Amerika befindet sich im Ausnahmezustand

Der US-Kongress zertifiziert den Wahlsieg Joe Bidens. Gewaltsame Ausschreitungen in Washington lenken indes von einer dramatischen Niederlage der Republikaner in Georgia ab. Eine progressive Wende unter Biden droht mehr denn je.
Ein Demonstrant schwenkt die US-Flagge im Inneren des US-Kapitols
Foto: Miguel Juarez Lugo (Zuma Press) | Ein Demonstrant schwenkt die US-Flagge im Inneren des US-Kapitols, nachdem Anhänger von US-Präsident Donald Trump das Gebäude gestürmt hatten.

In den USA überschlagen sich derzeit die Ereignisse: Eigentlich hätte diese Woche nach einer langen Phase der Unsicherheit endlich Klarheit bringen sollen. Zum einen darüber, welche Partei den Senat künftig kontrollieren wird. Zum anderen hätten die Wahlmänner der einzelnen Bundesstaaten in Washington zertifiziert und damit die Weichen gestellt werden sollen für die Amtseinführung Joe Bidens am 20. Januar. 

Es kam jedoch anders. Während die Abgeordneten im Kongress zusammentrafen, um das Ergebnis der Präsidentschaftswahl zu zertifizieren, stürmten Anhänger von Präsident Trump das Kapitol und sorgten für beispielloses Chaos. Die genaue Bilanz wird später noch folgen müssen. Bereits jetzt steht jedoch fest, dass mindestens vier Menschen bei der Aktion und dem damit verbundenen Polizeieinsatz ums Leben kamen. Der Kongress musste seine Beratungen unterbrechen, am Donnerstagvormittag konnte er den Wahlsieg Joe Bidens schließlich zertifizieren. 

 

Parteiübergreifend heftige Kritik

Die Ausschreitungen, herbeigeführt von einer geringen Zahl von Trump-Unterstützern, die offenbar noch immer an das quasi aussichtslose Szenario glauben, Bidens Wahlsieg doch noch abwenden zu können, wurden parteiübergreifend heftig kritisiert, auch von zahlreichen amerikanischen Bischöfen. Der Vorsitzende der US-Bischofskonferenz, José Gomez, verurteilte die Gewalt und erklärte: „Das zeigt nicht, wer wir als Amerikaner sind.“ Eine friedliche Machtübergabe sei „eines der Kennzeichen dieser großen Nation“. Bischof William Lori aus Baltimore nannte die Vorgänge „schockierend und unrechtmäßig“. Und auch Joseph Strickland, ein dezidiert konservativer, für das Trump-Lager offener Bischof aus Texas, sprach von einem „traurigen Tag für unser Land“.  

Dass die Republikaner wohl beide Senatsentscheidungen im Bundesstaat Georgia verloren haben und Biden mit einer rein demokratischen Legislative ins Amt starten wird, ging aufgrund der turbulenten Entwicklungen in Washington fast unter. Wem tatsächlich an der Zukunft der USA und an ihrem gesellschaftlichen und politischen Kurs gelegen ist, der sollte jedoch genau darauf sein Augenmerk richten.

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Joe Biden kann nun durchregieren

Dass Georgia, im Südosten des Landes gelegen, als republikanische Bastion wackelt, zeigte schon das Ergebnis der Präsidentschaftswahl, das knapp für die Demokraten ausfiel. Erstmals entsendet der Staat nun zwei demokratische Senatoren nach Washington. Der junge Filmemacher Jon Ossoff und der schwarze Baptistenpastor Raphael Warnock werden die Stichwahlen zwar denkbar knapp gewinnen, jedoch wohl mit ausreichend Vorsprung, sodass die unterlegenen republikanischen Amtsinhaber keine Nachzählung beantragen können. Dass beide Sitze verlorengehen, war für die Republikaner nicht unbedingt zu erwarten. Experten sind sich allerdings einig, dass viele republikanische Wähler von Trumps Rhethorik abgeschreckt worden sein könnten. Bis zuletzt hatte der Präsident in Georgia mit den republikanischen Kandidaten, Kelly Loeffler und David Perdue,  Wahlkampf gemacht. Beide hatten sich hinter Trumps These der „gestohlenen Wahl“ gestellt. 

Die siegreichen Kandidaten, die nun nach Washington ziehen werden, gehören indes nicht zum radikalen linken Flügel der Demokraten. Jedoch stehen sie für einen dezidiert progressiven Kurs und trugen im Wahlkampf ihre Pro-Choice-Haltung in der Abtreibungsfrage offen zur Schau. Wenn Joe Biden tatsächlich etwas an überparteilicher Politik und Versöhnung gelegen ist, muss er es nun, unter dieser für ihn günstigen politischen Konstellation unter Beweis stellen. Der 78-Jährige ist aber nicht mehr dazu gezwungen, den Republikanern die Hand zu reichen, um seine Vorhaben umzusetzen. 

Droht nun die progressive Wende?

Die Furcht zahlreicher Konservativer vor einer progressiven gesellschaftspolitischen Wende ist nun berechtigter als je zuvor. Auch wenn der Kampf gegen Covid-19 und die schwächelnde Wirtschaft diese zumindest verzögern könnten. Viele der teilweise gewaltsamen Demonstranten mögen ihr Handeln womöglich auch als Versuch ansehen, ihr Land auf dem rechten Pfad zu halten. Sie werden letztlich einsehen müssen, dass dies nur auf demokratischem Wege möglich ist. Und dieser sieht als nächsten Schritt eine friedliche Amtsübergabe an den demokratisch gewählten Joe Biden vor. Sonst steht der Ruf der USA als parlamentarische Demokratie auf dem Spiel.

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