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Sehnsucht nach der Vorkriegszeit

Zur Lage der Christen in Syrien. Eine Analyse.
Die Kurdenmiliz YPG
Foto: Str (EPA) | Die YPG ist der militärische Arm der kurdischen, marxistisch geprägten Partei PYD. Sie spielte eine wichtige Rolle im militärischen Kampf gegen den IS. Die Mehrheit der Christen hält aber Distanz zu ihnen.

Eine Lösung des Syrien-Konflikts ist nicht in Sicht, auch wenn das Assad-Regime mittlerweile wieder mehr als die Hälfte Syriens kontrolliert: Den Küstenstreifen mit den Städten Lattakia und Tartus und einen im Osten anschließenden Streifen, der von Aleppo im Norden über Hama, Homs und Damaskus bis nach Sweida im Süden Syriens reicht. Die Region um Afrin nördlich von Aleppo befindet sich seit Frühjahr 2018 unter der Kontrolle der Türkischen Armee und mit ihr verbündeter – teilweise radikalisierter – islamischer Gruppen. Teile von Nord- und Nordostsyrien werden von einem von der kurdischen PYD dominierten Bündnis – darunter auch einzelne christliche Gruppen – kontrolliert. Die PYD wird häufig als syrischer Arm der PKK aus der Türkei beschrieben.

Der IS hat weiterhin die Fähigkeit, Anschläge zu verüben

Der IS gilt als weitgehend geschlagen. Das heißt aber nur, dass er nicht mehr als Gruppe sichtbar ist. Die Fähigkeit Anschläge zu verüben, Angst und Schrecken zu verbreiten, hat er aber weiterhin. Zudem hat die Indoktrination des IS schreckliche Früchte getragen. Viele, die unter dem Diktat des IS und des von ihm propagierten kruden Islam gelebt haben, haben diese Lesart des Islam verinnerlicht.

Die Bevölkerung hat seit 2010 um rund 21 Prozent abgenommen – von rund 21,3 Millionen Einwohnern auf 16,9 Millionen im Jahr 2018. Der Anteil der Christen liegt im ungünstigsten Fall bei bis zu 78 Prozent: Von rund 1,5 Millionen Christen im Jahr 2010 ist er auf nun nur noch knapp 340 000 Menschen geschrumpft. Wesentlicher Grund dafür sind der Bürgerkrieg selbst (die Mehrheit der Opfer ist hier dem Regime anzulasten) und massive Übergriffe radikal-islamischer Gruppen aus dem Umfeld von Al-Qaida bzw. des sogenannten Islamische Staats nicht zuletzt auf Angehörige religiöser Minderheiten (Christen u.a.). Große Teile der christlichen Bevölkerung sind nicht nur zu Binnenflüchtlingen geworden, sondern haben das Land verlassen. Zurückkehren werden wohl nicht viele.

Konversionen zum Christentum in Afrin und Kobane

Gleichzeitig ist es zum Beispiel in Afrin und Kobane zu Konversionen zum Christentum gekommen. Maßgeblich dafür waren die Erfahrungen der muslimischen Bevölkerung mit radikal-islamischen Gruppen, die auch ihr das Leben teilweise zur Hölle gemacht haben. Allerdings sind in Folge der türkischen Invasion in Afrin alle dort lebenden christlichen Konvertiten geflohen – nach Aleppo und nach Kobane.

Große Teile von Nord- und Nordostsyrien werden von Kurden autokratisch kontrolliert, das Regime ist kaum präsent. Die kurdische PYD – eine marxistisch-leninistische Partei stalinistischer Orientierung –, die die Demokratische Föderation Nordsyrien dominiert, nimmt für sich zwar in Anspruch, für einen säkularen Staat, religiösen Pluralismus und Geschlechter-Gerechtigkeit einzutreten, tut sich aber – wie alle autokratischen Parteien – schwer damit, fehlende Loyalität oder gar Kritik von Teilen der Bevölkerung zu akzeptieren

Die Christen träumen mehrheitlich von der Vorkriegssituation: Davon, dass im ganzen Land wieder das Assad-Regime die Kontrolle übernimmt. Dass es sich bei diesem Regime um ein mörderisches Regime handelt, das ein ganzes Staatsvolk ins Unglück gestürzt hat, wird dabei ausgeblendet. Nicht zuletzt deshalb, weil das Regime aus reinem Eigennutz den Christen in der Vergangenheit größtmögliche Freiheit im Hinblick auf die Religionsausübung und die Verwaltung ihrer Kirchen eingeräumt hat. Im Gegenzug haben die Christen sich jeglicher politischer Aktivitäten enthalten. Wer dazu nicht bereit war, musste mit dem Schlimmsten rechnen.

Sympathien für Assad, kritisch gegenüber Kurden

Nicht zuletzt wegen ihrer Sympathien für das Assad-Regime stehen die Christen mehrheitlich im Konflikt mit der von der PYD dominierten kurdischen Verwaltung. Man kann allerdings davon ausgehen, dass viele Christen – selbst, wenn sie Sympathien für die von der PYD dominierte kurdische Verwaltung haben sollten – doch davor zurückschrecken, solche Sympathien öffentlich zu zeigen. Denn das Assad-Regime hat Illoyalität immer bestraft. Und niemand kann momentan voraussagen, ob und gegebenenfalls wann das syrische Regime auch wieder die volle Kontrolle über Nordsyrien einfordern bzw. bekommen wird. Gleichwohl unterstützt eine Minderheit der Christen in Nord- und Nordostsyrien die PYD und die von ihr dominierte kurdische Verwaltung.

Aus Gesprächen mit diesen Christen ergibt sich, dass sie das nicht aus ideologischen Gründen tun, sondern um das Beste für ihre Gruppe zu erreichen. Ob sich das auszahlen wird, ist fraglich. Denn niemand weiß, wie lange das Experiment Demokratische Föderation Nordsyrien Bestand haben wird. Sollte das Assad-Regime wieder die Kontrolle übernehmen, wird sich schnell die Frage von Loyalität bzw. Illoyalität stellen. Und das könnte für den Einzelnen höchst unliebsame Folgen haben.

Schwierig für Christen, sich mit den kurdischen Herren zu arrangieren

Wie schwierig es für die Mehrheit der Christen in Nordostsyrien ist, sich mit den neuen kurdischen Herren zu arrangieren, hat ein Streit um die privaten christlichen Schulen in der Region gezeigt. Die Kurden, lange vom Assad-Regime bedrängt und in der Entfaltung ihrer kulturellen Identität beschränkt, haben die aktuellen politischen Rahmenbedingungen genutzt und eigene Lehrpläne für die Schulen in der Demokratischen Föderation Nordsyrien entwickelt. Und alle Schulen – auch die privaten christlichen – zur Anwendung verpflichtet.

Die privaten christlichen Schulen haben sich dieser Pflicht verweigert. Die in den neuen Lehrplänen manifeste Ideologie der PYD, die auf den PKK-Gründer Abdullah Öcalan zurückgeht, hat dabei auch eine Rolle gespielt. Maßgeblich dürfte auch hier die Sorge der Mehrheit der Christen gewesen sein, dass die Anwendung der Lehrpläne der von der PYD dominierten Selbstverwaltung vom Assad-Regime als Illoyalität gewertet werden könnte. Die kurdische Selbstverwaltung hat mit Schulschließungen reagiert, diesen aber nach einiger Zeit den Betrieb wieder erlaubt.

Engagement der USA in der Region unabdingbar

Sorgen machen sich die Christen gegenwärtig aber vor allem im Hinblick auf die Rahmenbedingungen der geplanten Sicherheitszone in Nordsyrien. Diese Sicherheitszone wird von der Türkei schon lange gefordert. Nicht zuletzt, weil sie keine von der PYD dominierte Selbstverwaltung jenseits ihrer Grenze mit Syrien dulden will. Sie will, dass der militärische Arm der PYD, die YPG, die gemeinsam mit US-Truppen einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den IS aus dem kurdisch besiedelten Norden Syriens geleistet hat, vertrieben wird. Am liebsten wäre es der Türkei, sie könnte selbst die Kontrolle der Sicherheitszone übernehmen und auch viele in der Türkei lebende Flüchtlinge aus der Türkei dorthin abschieben. Davor fürchten sich nicht nur die Kurden, sondern u. a. auch die dort lebenden Christen.

Nur wenn das Gebiet auch weiterhin von den von den USA unterstützten Kurden und ihren Verbündeten kontrolliert wird, werden die Kurden und die dort lebenden Minderheiten, unter anderem die Christen, dort bleiben. Der kleinste Hinweis darauf, dass sich etwas an diesen Verhältnissen ändern könnte, würde jedoch die Christen, die ohnehin auf gepackten Koffern sitzen, zur Flucht drängen. Will man das verhindern, muss man das Engagement der USA in und für diese Region unterstützen.

Der Autor ist Koordinator Internationaler Religionsdialog bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Text basiert auf seiner neuen Studie „Zur Lage und der Perspektive von Christen in Nord- und Nordostsyrien“, die die Stiftung jetzt veröffentlicht hat.

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