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Leitartikel: Ungenügend differenziert?

Von Stefan Rehder

Die Weigerung der Vollversammlung des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Berlin, die Gläubigen des Hauptstadt-Bistums zur Teilnahme am diesjährigen „Marsch für das Leben“ am 16. September aufzurufen und die Anliegen des Marsches mit Gebet zu unterstützen, ist mehr als bloß peinlich. Das gilt selbst dann, wenn zuträfe, dass – wie von der Mehrheit des Gremiums jetzt unterstellt – ein „erheblicher Teil der Befürworter des Marsches“, eine „differenzierte Auseinandersetzung“ mit Themen wie Abtreibung oder dem ärztlich assistiertem Suizid „vermissen“ ließe. Gäbe es unter den rund 7500 Teilnehmern, die im vergangenen Jahr aus ganz Deutschland anreisten, um schweigend durch die Bundeshauptstadt zu ziehen, eine nennenswerte Zahl radikaler Lebensrechtler, die etwa Frauen, die abtreiben, oder Sterbewilligen, die in Ärzten mehr als „nur“ Heiler sehen, am liebsten hinter Schloss und Riegel brächten, wäre es Aufgabe der Hauptstadtkatholiken, diese zu einer „differenzierten“ Betrachtung zu bekehren. Oder aber – wenn sich dies als unmöglich erweisen sollte – wenigstens zu marginalisieren, statt ihnen die Straße vor der eigenen Haustür zu überlassen. Dies um so mehr als das für ein Bistum, das mehr als 400 000 Katholiken zählt, ein Kinderspiel wäre.

Doch der Abstand, den die Vollversammlung des Berliner Diözesanrates zu den Lebensrechtlern wahrt, ist nicht nur peinlich, er ist auch diffamierend. Wer selbst einmal am „Marsch für das Leben“ teilgenommen hat oder sich nur ein wenig mit der Arbeit der meist ehrenamtlich tätigen Lebensrechtler beschäftigt hat, weiß, dass die organisierten Berliner Laienkatholiken um Lebensrechtler bislang einen weiten Bogen gemacht haben müssen. Wäre es anders, wüssten sie, dass ein großer Teil derer, die einmal im Jahr zum „Marsch für das Leben“ in Berlin zusammenkommen, den Rest des Jahres über beeindruckende praktische Arbeit leisten. Viele von ihnen begleiten Frauen in Schwangerschaftskonflikten und oft weit darüber hinaus. Statt eine ungeplant Schwangere einmal zu beraten und ihr im Anschluss den Schein auszustellen, der nach geltendem Recht eine straffreie Abtreibung ermöglicht, helfen sie ihr, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sie eine Abtreibung in Betracht ziehen lässt. Sie begleiten Schwangere zu Ämtern, um mit ihnen staatliche Hilfen zu beantragen, vermitteln in Partnerschaftskonflikten, suchen, wo nötig, eine größere Wohnung, organisieren Umzüge oder besorgen eine Baby-Ausstattung. Bei großer finanzieller Not greifen sie Alleinerziehenden, Paaren und Familien mit zinslosen Darlehen oder Zuschüssen unter die Arme, helfen bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz oder sorgen für die Betreuung der Kinder, so etwa – um sicherzustellen, dass junge Mütter Ausbildung oder Studium beenden können. Andere engagieren sich in Hospizen und besuchen dort Sterbende und Schwerstkranke. Sie schenken ihnen Zeit, ein offenes Ohr oder beten mit ihnen. Wieder andere nehmen sich der Frauen an, die abgetrieben haben und deren Seelen dabei Schaden erlitten. Frauen, die von den Hilfsangeboten nicht erreicht wurden oder die sie sogar abgelehnt haben. Von einer „Stigmatisierung der Frauen“ – auch hier keine Spur.

Was die Lebensrechtler trotz ihres unterschiedlichen Engagements eint, ist die Erkenntnis, dass es kein „gutes Töten“ gibt (R. Spaemann) und Abtreibung keine Lösung, sondern nur Ursache weiterer Probleme ist. Wem das nicht differenziert genug ist, muss sich fragen lassen, ob er anstatt nach einem Mehr an Differenzierung nicht vielmehr nach Relativierung verlangt?

Stefan Rehder
Foto: DT | Stefan Rehder.
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