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Grünes Polit-Theater

In Berlin verlieh die Heinrich-Böll-Stiftung den mit 10 000 Euro dotierten Anne-Klein-Frauenpreis an drei wegen des Verstoßes gegen das Werbeverbot für Abtreibungen angeklagte Ärztinnen. Von Stefan Rehder
Anne-Klein-Frauenpreises 2019: Kristina Hänel, Nora Szász, Natascha Nicklaus
Foto: Heinrich Böll-Stiftung | Die Trägerinnen des Anne-Klein-Frauenpreises 2019 (v.l.n.r.): Kristina Hänel, Nora Szász, Natascha Nicklaus.

Seit Oscar-Preisträger Sam Mendes „Zeiten des Aufruhrs“ – glänzend besetzt mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio – auf die Leinwand bannte, zählt der gleichnamige Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Richard Yates zu den modernen Klassikern. Am Deutschen Theater Berlin wird er derzeit in der Bearbeitung von Jette Steckel auf die Bretter gebracht, die einigen die Welt bedeuten. Hinter der klassizistischen Fassade des einstigen „Friedrich-Wilhelm-Städtischen Theaters“ finden rund 600 Zuschauer Platz. Mehr als halb so viele wohnten vergangenen Freitag einem Schauspiel bei, das – nur einen Pflastersteinwurf entfernt – auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgeführt wurde und mit „Zeiten des Aufruhrs“ auch treffend überschrieben wäre. Dort, in der Schumannstraße 8, erhebt sich ein großzügiger, moderner Zweckbau. Glas, Stahl und Beton beherbergen hier die Bündnis90/Die Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung.

Eine Viertelstunde vor Beginn der Aufführung ist im Großen Saal, der bis zu 300 Personen fasst, kein freier Stuhl mehr zu ergattern. Und immer noch strömen Menschen durch das rundum verglaste Foyer über die große Haupttreppe der Beletage zu. Keiner der Gäste, überwiegend Frauen, die – dem äußeren Anschein nach – zu gut zwei Dritteln das fünfte Lebensjahrzehnt bereits hinter sich gelassen haben, würdigt dabei den mit Luftaufnahmen von schwarzen und weißen Schafen gemusterten grünen Teppich. Eine, wie es scheint, vergebliche Anspielung auf Bölls Erzählung „Die schwarzen Schafe“.

In der ersten Reihe, direkt vor der Bühne, haben mit Kristina Hänel, der wegen Verstoßes gegen das Werbeverbot für Abtreibungen in zwei Instanzen verurteilten Gießener Allgemeinärztin, und den beiden Kasseler Frauenärztinnen Natascha Nicklaus und Nora Szász, denen die Staatsanwaltschaft Kassel ebenfalls vorwirft, gegen das Werbeverbot für Abtreibungen zu verstoßen, auch die Preisträgerinnern des diesjährigen Anne-Klein-Frauenpreises Platz genommen.

Suche nach dem strukturellen Hebel

Wer im Großen Saal keinen solchen mehr findet, wird in den kleinen, gegenüberliegenden Konferenzsaal dirigiert, in dem Stiftungsmitarbeiter eilig Stühle für die Liveübertragung aufstellen. Kurz nach 19.00 Uhr begrüßt Hausherrin Barbara Unmüßig die Gäste: „Es ist wunderbar, dass so viele gekommen sind. Herzlichen Dank dafür. Wir freuen uns wirklich immer wieder, wie dieser Preis auf Resonanz, auf Liebe, auf Wertschätzung stößt. Das macht wirklich Spaß.“

Die studierte Politologin steht nicht nur der Heinrich-Böll-Stiftung vor. Die 63-Jährige ist auch Vorsitzende der Jury des mit 10 000 Euro dotierten Anne-Klein-Frauenpreises, den die Heinrich-Böll-Stiftung seit 2012 jährlich verleiht. Zuvor hatte die jüdische Kantorin Avitall Gerstetter, die während des Abends von Andreas Altenhof am Klavier begleitet wird, den Song „Somewhere Over the Rainbow“ dargeboten. Das Lied, bekannt aus dem Musicalfilm der „Zauberer von Oz“ (1933), zählt zu den Hymnen der Schwulenbewegung und soll diese zu ihrer Regenbogenfahne inspiriert haben.

Unmüßig kündigt ein Video an, das den Gästen die Namensgeberin des Preises näherbringen soll. In dem rund fünfminütigen Clip, fester Bestandteil aller Verleihungen des Anne-Klein-Frauenpreises, wird die 2011 im Alter von 61 Jahren an einem Krebsleiden verstorbene Juristin als „leidenschaftliche Feministin“ und „erste Senatorin in Berlin, die offen lesbisch lebte“, vorgestellt: „1989 wurde Anne Klein unter Walter Momper im Berliner Senat, der wegen seiner Frauenmehrheit auch als ,Feminat‘ bekannt wurde, Senatorin für Frauen, Jugend und Familie. Sie schwor ihren Eid mit den Worten, ,so wahr mir Göttin helfe‘“, erzählt die Stimme aus dem Off. In dem Video kommen auch eine Reihe ehemaliger Weggefährtinnen der parteilosen Politikerin zu Wort, allen voran die frühere EU-Kommissarin Michaela Schreyer und die ehemalige Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Renate Künast (beide Bündnis 90/Die Grünen). Anne Klein habe „sehr früh erkannt, dass es darum geht, Institutionen zu schaffen, die plötzlich Kraft und Energie multiplizieren. Das hat sie dann richtig aufgenommen. Immer zu gucken, wo ist der zentrale, strukturelle Hebel, der ganz viel verändert“, sagt Künast.

Ganz viel verändern will auch die Heinrich-Böll-Stiftung. Das macht Unmüßig in ihrer anschließenden Ansprache mehr als deutlich. Mit dem vom Deutschen Bundestag nach monatelangem Streit in der Woche zuvor verabschiedeten Kompromiss will sie sich nicht zufrieden geben: Auch der reformierte Paragraf 219a verletze „die Grundrechte auf Berufs- und Informationsfreiheit. Er verletzt das Selbstbestimmungsrecht von Patientinnen und das Recht auf Gleichberechtigung. Er kriminalisiert weiterhin Ärztinnen und Ärzte, die verantwortungsbewusst und zum Wohle ihrer Patientinnen ihren Beruf ausüben. Und dieser Paragraf verletzt definitiv das Menschenrecht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Er muss weg. Und das ohne faule Kompromisse.“

Dann kommt Unmüßig auf die 90er Jahre zu sprechen. Sie erwähnt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts des Jahres 1993, das zu einer Übergangsregelung und dazu geführt habe, „dass Ausländerinnen und sozial schwache Frauen keine Finanzierung von Abtreibungen über Sozialhilfe erhalten konnten“. Klein sei entrüstet gewesen.

„Renate Künast, Jurymitglied und Freundin Anne Kleins, berichtete, wie sie gemeinsam mit Anne und Barbara Binek, Annes Frau, am Pfingstwochenende 1993 im Abgeordnetenhaus saßen und hunderte Briefe eintüteten, telefonierten, Unterstützer zusammentrommelten, um Geld zu sammeln für die Kampagne der Frauen gegen dieses Verfassungsgerichtsurteil.“ Es sei „bitter“, dass die Entkriminalisierung von Abtreibungen auch 2019 noch immer nicht erreicht sei und „wir diese Kämpfe weiter führen müssen“.

Missratener Vergleich mit Hans von Dohnanyi

Dass der „zentrale strukturelle Hebel“ dafür die Preisträgerinnen selbst sind, offenbart die Laudatio der Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Annalena Baerbock. Im blutroten, dem Anlass durchaus angemessenen Kleid, tritt die 38-Jährige ans Mikrofon: „Liebe Frau Niklaus, liebe Frau Szász, liebe Frau Hänel, wir zeichnen Sie heute für Ihren Mut aus, sich gegen stigmatisierende Vorschriften gewehrt zu haben. Wir zeichnen Sie aber auch dafür aus, etwas in Gang gesetzt zu haben. Sie haben es geschafft, für Frauen ein neues Öffentlichkeitsthema zu finden, einen neuen Bezugspunkt, sich zu vereinen.“

Der Paragraf 219a gehöre „komplett gestrichen und dafür werden wir gemeinsam kämpfen“, kündigt Baerbock an. Und weiter: „Frauenrechte sind der Gradmesser für unsere Demokratie. Frauenrechte sind der Gradmesser für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in diesem Land. Und deswegen ist das nicht nur ein Kampf für Frauen, sondern das ist ein Kampf für unsere Demokratie und für die Menschenrechte von allem in unserem Land.“ Der Feminismus gehe „in die nächste Runde“.

Nach der Preisverleihung sind die Preisträgerinnern mit ihren Erwiderungen an der Reihe: Den Anfang macht Nora Szász. Die Hebamme und Gynäkologin mit ungarischen und sudetendeutschen Wurzeln beginnt ihre Rede mit einer Abwandlung des Prologs des Johannes-Evangeliums: „Am Anfang war ein Nein. Nein zu der Anzeige, die Natascha Nicklaus und mich an einem warmen Sommertag Ende August 2017 in der Praxis erreichte. Mitten in der Sprechstunde. Eine Anzeige wegen unerlaubter Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch nach § 219a. Ein kurzer Austausch. Nein. Das lassen wir uns nicht bieten.“

An Selbstbewusstsein scheint es der 57-Jährigen nicht zu mangeln. „Alles, was dann folgte, war, um Hans von Dohnanyi zu zitieren, der ,zwangsmäßige Gang eines anständigen Menschen?“, sagt Szász. Eine vor vorgeburtlichen Kindstötungen nicht zurückschreckende Gynäkologin, die sich mit einem der hingerichteten Widerstandskämpfer im Dritten Reich auf eine Stufe stellt, gibt es nicht alle Tage zu bestaunen.

Es folgt Natascha Nicklaus, die zusammen mit Szász in Kassel eine Gemeinschaftspraxis unterhält. Sie bewege „es ganz besonders als Lesbe, den Preis einer lesbischen Stifterin, einer Vorkämpferin, zu erhalten“, sagt Nicklaus. Ihrem Curriculum Vitae zufolge hat die 49-Jährige ihre Ausbildung zur Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an den Städtischen Kliniken Bielefeld-Rosenhöhe absolviert, wo Schwangerschaftsabbrüche zum „Arbeitsalltag“ gehörten.

„Meine Praxispartnerin und ich sind beide in der feministischen Frauenbewegung verwurzelt. Deswegen stand unsere Entscheidung, uns nicht zu beugen, nie zur Debatte. Es war einfach keine Option, auf das Angebot der Staatsanwaltschaft einzugehen, das Verfahren einzustellen, wenn wir nur den Eintrag von der Website nehmen“, klärt Nicklaus auf.

Sie fährt fort: „Wir wollen nicht, dass es in Deutschland zwei einzelnen Männern gelingt, aus unserer Sicht selbstverständliche Inhalte im Internet dauerhaft zu verhindern und damit Frauen Informationen vorzuenthalten: Durch vielfaches Anzeigen unter Zuhilfenahme eines aus der Zeit gefallenen deutschen Gesetzes. Es sind nur zwei einzelne, die anzeigen.“

Als Letzte ist Kristina Hänel dran. Die zweifach verurteilte Ärztin, die ihren Fall bis vor das Bundesverfassungsgericht bringen will, erzählt von Steinewerfern und losen Steinen, die andere Steine ins Rollen brächten und so einen Erdrutsch auslösten. „Heute stehen wir hier zu dritt und werden geehrt. Drei Ärztinnen, die Abtreibungen machen.“ Mit ihnen erhielten „auch Frauen, deren Würde“ beim „Thema Abtreibung“ ständig verletzt werde, „einen Teil ihrer Ehre zurück“, meint Hänel und zeigt, dass sie nicht nur für vorgeburtliche Kindstötungen zu werben versteht. Am 22. März werde sie auf der Leipziger Buchmesse ein neues Buch vorstellen: „Das Politische ist persönlich – Tagebuch einer Abtreibungsärztin“. Einen Auszug habe sie heute mitgebracht: „Auf einem Kongress von FIAPAC (Anm. d. Autors: FIAPAC ist das Kürzel der englischen Bezeichnung für die ,Internationale Vereinigung von Fachkräften zu Schwangerschaftsabbruch und Kontrazeption‘) im französischen Nantes lerne ich die internationale Gruppe ,Catholics for Choice‘ kennen. Ich bin müde nach zwei Tagen Kongress, aber Christiane von Rauch, Freundin und Kollegin aus der Solidaritätsgruppe, zerrt mich in einen weiteren Workshop. Es soll dort unter anderem um Moral und Ethik gehen. Ich kann das eigentlich nicht mehr hören. Aber dann wird der Workshop zu einem der wichtigsten Beiträge zu dem Thema für mich. Am meisten beeindruckt mich die Geschichte eines südafrikanischen Arztes, der vom Pro Lifer zum überzeugten Pro Choicer wurde, nachdem er den Tod einer Kollegin miterleben musste. Ich werde die Geschichte nicht mehr los. Früh am nächsten Morgen (...) laufe ich über die Loire in einen einsamen Park, und der Satz ,She was young, tall and pretty – then she died‘ wird in meinem Kopf zu einer immer wiederkehrenden Melodie. Es könnte der Beginn eines Liedes werden.“

Jetzt singt sie auch noch

Hänel verlässt das Rednerpult, schreitet über die Bühne, zieht das für Gerstetter bestimmte Mikro aus dem Ständer und beginnt zu singen. Doch weil die Abtreibungsärztin nicht die Spur des Talents einer Barbara Schöneberger besitzt, der TV-Moderatorin, die ihrem ersten Album den selbstironischen Titel: „Jetzt singt sie auch noch“ gab, sind der Fremdscham keine Grenzen gesetzt. Zwei der wenigen jungen Männer im Saal schlagen die Hände vor's Gesicht und beißen in die Handrücken. Hänel scheint diese und ähnliche Reaktionen nicht zu bemerken. Vielleicht sind sie ihr auch egal. Denn zum Refrain ihres in leidlichem Kindergartenenglisch vorgetragenen Liedes geht die von Medien und Aktivisten zum Star gemachte Ärztin zum Bühnenrand, beugt sich zum Publikum hinunter und sucht die in der ersten Reihe sitzenden Honoratioren zum Mitsingen zu animieren. Vergeblich. Als der Spuck ein Ende hat, gibt Gerstetter sich alle Mühe, Hänels Gesangseinlage vergessen zu machen. Unmüßig lädt die Gäste zum „Weiterfeiern“ ins Foyer, wo „DJane Biggi Garten“ auflegt: „Dieses Fest ist ein Fest. Es geht mindestens bis Mitternacht: Wir essen und tanzen. Guten Appetit! Fest, Freude, Feier!“

Eineinhalb Stunden sind verstrichen. Eineinhalb Stunden, in der niemand auch nur ein einziges Mal die „ungeborenen Kinder“ erwähnte, vom „ungeborenen“ oder wenigstens „werdenden Leben“ sprach. Vermutlich isst, tanzt und feiert es sich so besser.

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