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Fatima, ein Heiligtum auf der Suche nach einer neuen Identität

Auch wenn Franziskus heute zwei der drei Seherkinder heiligspricht, scheint das von ihnen Geschaute nicht mehr hoch im Kurs zu stehen. Von Guido Horst
Pilger in Fatima
Foto: dpa | Letzte Vorbereitungen im Heiligen Bezirk: Helfer schmücken mit Blumengebinden die Wiese mit den Statuen der beiden Seherkinder Jacinta und Francisco vor der Heiligsprechung durch den Papst.

Der Hang katholischer Heiligtümer und Stätten der Volksfrömmigkeit zur Versüßlichung geht auch an Fatima nicht vorbei. Pünktlich zur Ankunft von Papst Franziskus in dem portugiesischen Wallfahrtsort, der das hundertjährige Jubiläum der Erscheinungen der Gottesmutter vor drei Hirtenkindern begeht, sind die Devotionalienläden rund um den gewaltigen zentralen Platz zwischen der alten und neuen Basilika prall gefüllt mit dem üblichen religiösen Tand – und viele Bilder oder Postkarten oder Gipsfigürchen zeigen die drei Kinder Lucia, Francisco und Jacinta, von denen der Papst heute die beiden letzteren heiligspricht. Zu sehen sind sie als fromme, friedliche, die Schau des ewigen Heils bereits auf den Gesichtszügen tragende Kinder der ganz unschuldigen Art. Nun zeigen alle historischen Aufnahmen der Seherkinder genau das nicht. Auf den Fotos der Dreien aus jener Zeit sieht man ernste Kindergesichter, durchaus auch verkniffen, wenn die Sonne sie blendete. Und das von ihnen in den Visionen Geschaute war eben nicht nur „Licht und Friede“, was jetzt zum Motto der Hundertjahrjubiläums von Fatima geworden ist, wie das eine eigene Ausstellung den Pilgern auf dem Gelände des Heiligtums nahebringen will.

Schwere, fast schwarze Wolken hängen über Fatima, der Westwind lässt vom Atlantik her immer neue Regenwolken über den Wallfahrtsort ziehen. Starke Schauer wechseln sich ab mit plötzlich aufblitzender Sonne, die dann wieder sofort hinter dem nächsten Schub der nicht abreißenden Schlechtwetterfront verschwindet. Aber sie kommen – mit Bussen, Autos und in Wohnmobilen: die Pilger, die sich das Fatima-Jubiläum mit Franziskus nicht entgehen lassen wollen. Von der modernen Basilika, einem weißen Rundbau, der als „Kirche von der Allerheiligsten Dreifaltigkeit“ im Jahr 2007 eingeweiht wurde und mit neuntausend Sitzplätzen die viertgrößte katholische Kirche der Welt ist, ziehen sie über den Kirchenvorplatz – er ist der größte seiner Art auf dem gesamten Globus – Richtung „Basilica Antiga“, der alten, nach 35-jähriger Bauzeit 1953 geweihten Wallfahrtskirche, um die zwischen beiden Gotteshäusern gelegene Erscheinungs-Kapelle mit der Marienstatue zu erreichen. Diese Kapelle ist das „Herzstück“ von Fatima und das Ziel der Pilger. Nach den Marien-Erscheinungen des Jahres 1917 bei der Steineiche errichtete die Bevölkerung in deren Nähe eine kleine Kapelle, ohne staatliche oder kirchliche Genehmigung durch weltliche oder kirchliche Behörden. Am 6. Juni 1922 wurde diese Kapelle durch Sprengsätze beinahe komplett zerstört. Ein Jahr später hat man sie im ursprünglichen Zustand wieder aufgebaut.

Den genauen Erscheinungsort markiert eine Marmorsäule, auf der die weltberühmte Statue der Jungfrau von Fatima steht. Papst Paul VI. übergab 1965 dem Heiligtum die „Goldene Rose“, die er zuvor selbst geweiht hatte. Die Steineiche existiert nicht mehr, da sie in vielen kleinen Teilen als Souvenir mitgenommen wurde. Die Kapelle und deren Umgebung ist heute komplett überdacht, damit Pilger darunter Schutz vor Regen und Sonne finden können.

Die Gräber der drei Seherkinder werden in diesen Tagen von vielen Pilgern besucht. Die jetzt heiligzusprechende Jacinta und die ältere Lucia – für sie, die 2005 verstorbene, läuft ein Seligsprechungsverfahren – liegen unter schlichten Steinplatten in der linken Seitenkapelle vor dem Hauptaltar der „Basilica Antiga“, ihnen gegenüber, in der Kapelle auf der anderen Seite der Kirche, der zweite Heilige des heutigen Tages, Francisco. Es waren keine Erbaulichkeiten, die sie die Gottesmutter 1917 sehen ließ und die als die „drei Geheimnisse“ oder „das Geheimnis in drei Teilen“ von Fatima in die Geschichte eingegangen sind – ganz im Gegenteil, sie waren weder kindgerecht noch jugendfrei. Die erste Schau: eine Höllenvision. Die zweite: ein Krieg, große Leiden und der Untergang von ganzen Völkern, es ging um Russland und dessen Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens. Die dritte schließlich: ein Gemetzel, ein „Bischof in Weiß“ sinkt tödlich getroffen vor dem Kreuz nieder, um ihn herum viele Tote.

Von diesem Verstörenden der Botschaft von Fatima findet sich heute an diesem Heiligtum wenig oder besser gesagt gar nichts. Stattdessen Kitsch und süßlich Frommes in den Souvenirläden und normaler, katholischer Wallfahrtsbetrieb in der Pilgerstätte mit den beiden Basiliken und der Erscheinungskapelle. Hinter der Kapelle raucht es in der verrußten Wachsverbrennungsanlage. Die Pilger kaufen große und kleine Kerzen, aber auch Kinderpuppen oder Nachbildungen menschlicher Gliedmaßen aus Wachs, um sie als Dankopfer für Heilungen und Erhörungen in die eisernen Gerüste werfen, in denen die Kerzen nicht friedlich abbrennen, sondern vom lodernden Feuer sogleich entflammt und zerschmolzen werden. Mit den gesittet abbrennenden Opferkerzen in Altötting oder Kevelaer hat das weniger zu tun.

Dass Fatima ein typisch südeuropäischer und kein besonderer Zielpunkt für deutschsprachige Pilger ist, zeigt die Beichtstatistik. Der modernen Basilika vorgelagert befinden sich unterirdisch drei große, nüchtern gestaltete Kapellen, die über eine lange Treppe oder eine ebenso lange Rampe zu erreichen sind – sozusagen als Bunker der frommen Seelen. Während in diesen Tagen in der „Kapelle des Todes unseres Herrn Jesus Christus“ eine gut besuchte Messe nach der anderen gefeiert wird und in der Sakramentskapelle viele Menschen vor dem Allerheiligsten knien, besteht in der „Kapelle der Versöhnung“ Beichtgelegenheit. Elektronische Hinweistafeln zeigen an, welcher Pater in welcher Sprache gerade frei ist, um das Sakrament der Buße zu spenden. Die Sprachen sind Portugiesisch, Spanisch, Italienisch, Französisch und Englisch – Deutsch ist nicht im Angebot. Im Vorraum gibt eine Statistik Auskunft über das Beichtaufkommen im Jahr 2016: 125 000 Beichtgespräche wurden gezählt, gut über hunderttausend waren Einheimische, über zwanzigtausend ausländische Besucher. Wenn auch Deutsche darunter waren, mussten sie ihre Beichte in einer fremden Sprache ablegen.

Fatima ist ein Heiligtum der jüngsten Neuzeit. Nach den sechs Erscheinungen der Gottesmutter mit dem abschließenden Sonnenwunder im Oktober 1917 kam die in allen europäischen Regionen unruhige Zwischenkriegszeit, dann der Zweite Weltkrieg. In den vierziger Jahren zeichnete Schwester Lúcia dos Santos die drei Geheimnisse von Fatima auf, dann erst begann der Wallfahrtsbetrieb im heutigen Stil. Ab Paul VI. suchten – bis auf Johannes Paul I. – alle Päpste das Heiligtum auf, der Pilgeransturm wurde größer, die 1953 eingeweihte Basilika erhielt erst vor zehn Jahren ihr modernes Gegengewicht – mit all den Fragwürdigkeiten, die zeitgenössische sakrale Architektur und Kunst in sich bergen: Der Christus am Kreuz in der neuen Basilika sieht aus wie ein Neandertaler, und der Gekreuzigte vor dem Kirchenbau wie ein eisernes Strichmännchen, das unter eine Dampfwalze geraten ist.

„Licht und Friede“ sind heute das Motto des Heiligtums, auch wenn nicht Licht und Friede der Inhalt dessen waren, was Maria den drei kleinen Kindern zeigte, sondern der ernste Aufruf zu Umkehr und Buße. Licht und Friede – und ein sehr lukrativer Pilgertourismus sind inzwischen Kennzeichen des Wallfahrtsbetriebs in Fatima. So als suche Fatima eine neue Identität. Auch wenn Franziskus heute zwei der Seherkinder heiligspricht, scheint das von ihnen Geschaute in Fatima nicht mehr hoch im Kurs zu stehen.

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