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„Es herrscht absolute Aufbruchstimmung“

Karin Maria Fenbert reiste in den Nordirak und nach Aleppo. Langsam kehren die vertriebenen Christen wieder in ihre Heimat zurück. Im Gespräch mit der „Tagespost“ erklärt sie, weshalb deren Zukunft dennoch weiterhin ungewiss ist. Von Maximilian Lutz
Foto: Karin Maria Fenbert/Kirche in Not | Der Kindergarten der Dominikanerinnen in Telskuf brannte völlig aus. Mittlerweile wurde er wieder hergerichtet, teilweise findet sogar Katechismusunterricht statt.
Frau Fenbert, Sie sind gerade von einer Reise in den Nordirak und nach Aleppo zurückgekehrt. Wo sind Sie gestartet und wie verlief die Route?

Wir sind über den Libanon ins syrische Aleppo gereist. Von dort ging es zurück nach Beirut, und dann mit dem Flugzeug nach Erbil. Von dort aus haben wir zweimal die Ninive-Ebene bereist. An einem Tag waren wir in den Dörfern Telskuf und Batnaya, am anderen in Karakosh.

Aus Aleppo hört man zurzeit vergleichsweise positive Nachrichten, viele Menschen sind wieder zurückgekehrt in die Stadt, die im Wiederaufbau ist. Sie konnten sich selbst ein Bild von der Lage machen. Was sind Ihre Eindrücke?

Ich habe zweierlei Eindrücke: Die Lage um Aleppo herum unterscheidet sich von der Situation in Aleppo selbst. Ich war im Januar das letzte Mal dort und kann zumindest aus meiner subjektiven Sicht ganz gute Vergleiche ziehen. In Aleppo ist das Leben seit Mitte Januar noch mehr aufgeblüht, man sieht noch mehr Autos auf den Straßen, viel mehr geöffnete Läden. Man hat fast den Eindruck, das Leben würde wieder seinen gewohnten Gang gehen, als ob es nie Krieg gegeben hätte.

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Diesmal waren wir fast nur im Westteil der Stadt unterwegs. Aber einmal haben wir doch das Viertel al-Meydan gestreift, den am meisten zerstörten Stadtteil von Aleppo. Und da scheint alles noch tot. Nur wenige Häuser wird man dort wieder bewohnbar machen können, da vermutlich die Statik nicht mehr ausreicht. In anderen Teilen der Stadt, auch an der Grenze zu al-Meydan, sieht man Leute, die die Löcher in ihren Häusern mit Ziegeln zu verschließen versuchen. Man sieht Malerarbeiten, Spachtelarbeiten, Elektroarbeiten... Während in der ersten Hälfte des Jahres 2016 nur 19 000 Christen in Aleppo gelebt haben sollen, sind es mittlerweile 35 000. Es kommen also immer mehr zurück. Man weiß jedoch nicht genau, ob der Großteil von ihnen nur zurückkehrt, um Häuser und Wohnungen zu verkaufen und dann wieder ins Ausland zu gehen, oder um tatsächlich dauerhaft zu bleiben.

Was wird unternommen, um für eine dauerhafte Rückkehr zu sorgen?

Wir arbeiten mit den Bischöfen und Ordensleuten zusammen an einem „Welcome-Back-Programm“. Das steht noch nicht in allen Einzelheiten, aber Ziel ist es dafür zu sorgen, dass die Menschen in Aleppo bleiben. Die dortigen Christengemeinden dürfen nicht aussterben, sondern sollen möglichst in ihrer Stärke erhalten bleiben. Die Vertriebenen brauchen weiterhin Hilfe und Unterstützung, denn es gibt nur wenig Arbeit, die auch bezahlt wird. Unsere Nahrungsmittelhilfe oder das Bereitstellen von Strom für jede Familie läuft natürlich weiter. Zudem arbeiten wir daran, jemanden zum Studium nach Rom zu schicken, möglichst einen Geistlichen, der sich ausbilden lässt in der Behandlung von Kriegstraumatisierten. Er könnte dann sein Wissen an die Menschen vor Ort weitergeben und mit der Traumabehandlung beginnen. Und natürlich erhalten wir unsere medizinischen Projekte aufrecht.

Und wie ist die Lage außerhalb von Aleppo?

Da sieht die Sache ganz anders aus. Mir ist aufgefallen, dass nachts nach wie vor Bombardements stattfinden. Sie sind zwar nicht direkt in der Stadt, aber nur einen Kilometer weit weg. In einer Nacht waren minutenlange Bombardements zu hören. So stark habe ich das im Januar nicht wahrgenommen.

Die Hauptzufahrtsstraße nach Aleppo wurde neu asphaltiert, und auch in Aleppo selbst waren die Straßen erneuert. Im Januar gab es im Stadtteil al-Meydan noch gar keinen Verkehr. Auf der Straße nach Aleppo wurde auch mit Hochdruck daran gearbeitet, die Strommasten wieder zu errichten. Denn Aleppo leidet mehr als Damaskus und Homs unter Strommangel. Aber man sah auch ungefähr 40 oder 50 Kilometer von Aleppo entfernt nahe der Hauptpassierstraße Helikopter der Regierungstruppen kreisen. Das heißt, die Rebellen waren nicht weit weg, sonst wären die da nicht geflogen. Zudem gibt es viele Checkpoints, die man passieren muss, und bei manchen habe ich in angrenzenden Häusern Panzer stehen sehen. Auch das ist mir im Januar nicht aufgefallen. Kurz vor Aleppo kamen wir an einem Konvoi russischen Militärs vorbei. Besonders friedlich scheint mir die Lage um Aleppo herum somit nicht zu sein.

Hatten Sie die Möglichkeit, mit Christen vor Ort zu sprechen?

In Aleppo weniger, aber ich habe mich dort intensiv mit Schwester Annie Dermerjian unterhalten. Schwester Annie hat drei Brüder, zwei von ihnen wurden in der ersten Zeit des Bürgerkriegs gekidnappt. Der eine von der Al-Nusra-Front, der andere von einer anderen extremistischen Gruppierung. Sie wurden zwar nur einen Tag gefangen gehalten, aber fürchterlich zugerichtet. Der eine Bruder brauchte drei Monate, um sich von seinen gesundheitlichen Schäden einigermaßen zu erholen. Als ich fragte, wie ihre Brüder damit zurechtkämen, meinte sie, sie beteten sehr viel. Einem der Brüder wurde jedoch gedroht, dass nächstes Mal seine Kinder gekidnappt würden, daher ist er nach Frankreich ausgewandert.

Ich habe mich auch nach einem Ehepaar erkundigt, das ich im Januar getroffen hatte, und das von Rakka fliehen konnte, nachdem der Mann schwer misshandelt wurde. Mehr als 30 Tage verbrachte er in einer Einzelzelle, in Kreuzesform fixiert. Sie hatten es damals geschafft, dass ihr Sohn mit nach Aleppo kommen konnte und Schwester Annie Dermerjian hat sich um diese Familie kümmerte. Daraufhin ging der Sohn zurück nach Rakka, um zu versuchen, auch seine Schwester dort herauszubekommen. Allerdings scheiterte er. Seitdem haben die Eltern bis heute kein Lebenszeichen mehr von ihren Kindern erhalten.

Blicken wir in Richtung Ninive-Ebene: Wie groß ist dort das Ausmaß der Zerstörung?

Unterschiedlich von Ort zu Ort. Wir waren in Telskuf, dem Ort, der am meisten wiederaufgebaut ist, und in Batnaya, das am meisten zerstört wurde. Darüber hinaus besuchten wir den Hauptort der Christen in der Ninive-Ebene, Karakosh. In Telskuf konnte man trotz 50 Grad Hitze Straßenbauarbeiten sehen – große Bagger, Betonmischer, Leute mit Schubkarren, die versuchten, den Straßenzustand wiederherzustellen und Bürgersteige und Abwasseranlagen zu bauen. Und man sah auch Menschen, die dabei waren, ihre ausgebrannten oder zerstörten Läden wieder herzurichten. Wir waren in einer Metzgerei, die erst vor kurzem neu eröffnet wurde. Zwar kommen noch nicht so viele Kunden, aber je mehr Leute zurückkehren, desto besser wird das werden.

Außerdem besuchten wir eine Ordensschwester, deren Konvent einen Kindergarten beherbergte. Das gesamte Gebäude war völlig ausgebrannt. Mittlerweile ist es wieder einigermaßen hergerichtet. Man ist schon dabei, in manchen der Räumlichkeiten wieder Katechismusunterricht zu geben, und auch der Kindergarten hat seinen Betrieb wieder aufgenommen. Die Schwester ist froh, dass sie wieder zurückkehren konnte. Ebenso habe ich eine Familie getroffen, in der der Vater Elektrotechniker ist. Er hilft jetzt tatkräftig mit beim Wiederaufbau. Man trifft zahlreiche junge Leute, die die ganze Woche lang zehn bis zwölf Stunden pro Tag arbeiten – und das, ohne Geld zu bekommen. Sie sind dabei, die Häuser zu katalogisieren – wem gehört welches Haus, wie viele Quadratmeter zählt es, was muss renoviert werden, damit das Haus wieder bewohnbar ist. Da diese Arbeit in Telskuf schon relativ weit vorangeschritten ist, kümmert sich die Gruppe mittlerweile auch um den Nachbarort Batnaya. Dort bin ich auch gewesen, da findet noch kein Leben statt. Man sah nur Menschen am Kontrollposten zur Einfahrt der Ortschaft. Und an einem Haus verrichtete jemand Arbeiten. Ansonsten war noch niemand wirklich zurückgekommen. Anders als in Telskuf, wo wir in verschiedenen Häusern waren und mit Familien gesprochen haben.

In der Kirche Sankt Georg in Telskuf waren junge Leute mit Schweißarbeiten beschäftigt. Und man sah, dass die Kirche neben all den Baugerüsten und dem Bauschutt schon wieder einigermaßen manierlich aussah. Es ist wichtig für die Christen dort, dass ihre Gotteshäuser wieder errichtet werden. Denn sie sind ihre Identifikation und gleichzeitig ihre Kraftquelle, um in diesen Zeiten den Aufbau wieder zu wagen.

In welchem Zustand befinden sich die Kirchengebäude in der Ninive-Ebene?

Viele sind ausgebrannt, teilweise bis auf die Grundmauern. Bei einigen sind Wände und Dächer beschädigt. Der Grad der Zerstörung ist unterschiedlich. Bei Herz-Jesu oder Marienstatuen wurden häufig die Köpfe abgeschlagen. In Batnaya konnte ich an zwei Häusern, die in Kacheln Marienbilder hatten, beobachten, dass ihnen die Gesichter ausgekratzt wurden. Das ist typisch für islamistischen Terror. Wenn man von Karamlesh nach Karakosh einfährt, kommt man an einem riesigen Kreuz vorbei. Während man in unseren Breiten versucht, das Kreuz aus der Öffentlichkeit zu verbannen, bekennen sich die Christen im Irak ganz demonstrativ zu ihrem Glauben.

Welchen Einzelschicksalen sind Sie begegnet?

Wir waren in einem der Häuser, das von Kirche in Not wieder aufgebaut wurde, und haben mit der Familie gesprochen. Die Familie ist froh, dass sie aus den Flüchtlingsverhältnissen aus Erbil/Ankawa wieder in ein normales Haus ziehen konnte. Die Söhne des alten Hausherren hatten vorher immer wieder die Fahrt nach Karakosh unternommen, um das Haus bewohnbar zu machen. Seit dem 19. Juni lebt die Familie wieder in ihrem Haus. Alles wurde neu gestrichen, der Fußboden, der total verdreckt oder ausgebrannt war, wurde geschrubbt, neue Fenster wurden eingesetzt. Denn IS-Anhänger oder andere Muslime plünderten Türen und Fenster. Das hörte man aus allen Orten. Zudem hat man neue Schlösser eingesetzt, etwas zur Wärmedämmung getan, was bei 50 Grad Hitze absolut notwendig ist. Mit Hilfe von Kirche in Not hat sich die Familie einen Kühlschrank und eine Klimaanlage gekauft und die Sanitäranlagen wieder in Gang gesetzt. Drei der Söhne des Hausherren haben nun auch Arbeit. Einer führt einen Laden, einer arbeitet bei der Polizei, der andere bei der NPU, der „Ninive Protection Unit“. Nach ihrer Flucht musste die Familie in einem Haus in Ankawa in ein oder zwei Räumen mit drei weiteren Familien hausen. Ich habe es in den letzten Jahren oft erlebt, dass eine Familie derart zusammengepfercht in einem Haus leben musste, und das über mehrere Jahre hinweg.

1 200 Familien sollen bereits in ihre Häuser in den Dörfern der Ninive-Ebene zurückgekehrt sein. Gibt es auch Christen, die nicht zurückkehren wollen?

In Karakosh wurde uns gesagt, dass im Schnitt täglich fünf Familien zurückkommen. Natürlich gibt es auch Christen, die nicht zurück wollen – und Kräfte, die eine Rückkehr zu verhindern versuchen, aus verschiedensten Interessen. Auf der anderen Seite bin ich auf meiner Reise einem Mann begegnet, der mit seiner Familie sechs Monate in der Slowakei war und wieder zurückgekommen ist. Zwar kehren nicht so viele Menschen zurück, wie das in Aleppo der Fall ist. Aber es kommen auch Leute wieder in den Irak. Doch für eine gelungene Rückkehr ist es notwendig, den Menschen vor Ort eine Perspektive zu geben. Insofern sind wir weiterhin auf Spenden angewiesen, damit noch mehr Kirchen renoviert und Häuser bewohnbar gemacht werden können.

Insgesamt hört sich das so an, als wäre einiges wieder im Gange in den Dörfern der Ninive-Ebene.

Ja, es herrschst absolute Aufbruchstimmung, die jungen Leute sind richtig fleißig, auch wenn sie kein Geld für ihre Arbeit bekommen. Ich schätze, sie sind einfach froh, wieder etwas Sinnvolles zu tun zu haben. Auf der anderen Seite schwebt über deren Köpfen das Damoklesschwert vom 25. September – das Referendum über einen autonomen Kurdenstaat.

Was bedeutet dieses Referendum für die Christen im Nordirak?

Es bedeutet weiteres Ungemach. Die Christen wollten sich dazu uns gegenüber nicht weiter äußern, denn egal was sie sagen, sie setzen sich immer in die Nesseln. Wenn sie für ein autonomes Kurdistan stimmen, dann werden sie die Regierung in Bagdad gegen sich haben. Außerdem wird die Türkei nicht zuschauen, wenn ein unabhängiges Kurdistan entstehen sollte. Stimmen sie mit „Nein“, haben sie die Kurden gegen sich. Auf deren Gebiet wohnen sie aber weitestgehend. Was auch immer sie machen, sie können sich nur falsch entscheiden.

Im Vergleich zu Aleppo, wie sicher schätzen Sie die Lage im Nordirak ein?

Eigentlich sicherer als in Aleppo. Wenn nicht dieses Referendum am Horizont wäre. Das ist eine große Unbekannte. Und deswegen blicken auch viele Christen mit Fragezeichen in ihre Zukunft.

Was können wir in Deutschland tun, um den Menschen in den Krisengebieten zu helfen?

Zum einen die Menschen finanziell unterstützen, damit sie weiterhin ihr Leben wieder aufbauen können. Sonst werden noch weitere das Land verlassen. Zum anderen sind Gebete wichtig. Man muss beten, dass es irgendwie zu einer friedlichen Lösung kommt.

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