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Die Keimbahn ist nicht sakrosankt

Genom-Editing: Der Deutsche Ethikrat hat die Stellungnahme „Eingriffe in die menschliche Keimbahn“ vorgelegt. Von Stefan Rehder

Es stimmt schon: Dass der Deutsche Ethikrat zum gegenwärtigen Zeitpunkt einstimmig Eingriffe in die menschliche Keimbahn ablehnt, die das Ziel verfolgen, genetisch veränderte Menschen zu erschaffen, ist zugleich ein Bekenntnis zu genau jenen Eingriffen zu einem späteren Zeitpunkt. Wen das allerdings ernsthaft wundert, der muss sich fragen lassen, in welchem Paralleluniversum er die letzten zwei Jahrzehnte zugebracht hat? Denn dass kein Mitglied des Gremiums, das Bundesregierung und Parlament in ethischen Fragen beraten soll, die Keimbahn für sakrosankt hält, kann nur den überraschen, an dem die vorangegangenen bioethischen Debatten um die Embryonen verbrauchende Stammzellforschung, das Klonen, die Schaffung von Mensch-Tier-Wesen und die Selektion von ungeborenen Menschen im Frühstadium ihrer Entwicklung mittels Präimplantationsdiagnostik und nichtinvasiven Gentests vollständig vorbeigegangen sind. In einer Welt, in der der Mensch vielen nur noch als intelligentes Tier und Zufallsprodukt der Evolution gilt, ist der Gedanke einer „Gattungswürde“, der ein solches Verbot begründen könnte, in etwa so vertraut wie die Keilschrift der Sumerer oder ägyptische Hieroglyphen.

Daher wundert es nicht, dass die 232 Seiten umfassende Stellungnahme, die von 18 der 26 Ratsmitgliedern in 15 Monaten erarbeitet und am 9. Mai Bundesforschungsministerin Anja Karliczek überreicht wurde, keine Unantastbarkeit der menschlichen Keimbahn begründet und ein kategorisches Verbot solcher Eingriffe ablehnt. Überraschen muss vielmehr, dass das weltanschaulich überaus heterogen zusammengesetzte Gremium der Politik einstimmig empfiehlt, die Weiterentwicklung der CRISPR/Cas-Technologie „durch Grundlagenforschung ohne Rückgriff auf menschliche Embryonen in vitro zu fördern“. Die um die Jahrtausendwende viel beschworene „Ethik des Heilens“ rechtfertigt heute offenbar nicht mehr jedes Opfer. Das ist ein ethischer, mehr noch, ein humaner Fortschritt, auch wenn mit diesem sicherlich keine prinzipielle Ablehnung einer menschliche Embryonen verbrauchende Forschung verbunden ist.

Auch dass sich die Ratsmitglieder einstimmig für ein internationales Moratorium für die klinische Anwendung von Keimbahneingriffen aussprechen und der Bundesregierung empfehlen, auf eine entsprechende verbindliche internationale Vereinbarung hinzuwirken, versteht sich nicht von selbst. Angesichts der alles überragenden Bedeutung, die heute regelmäßig der Selbstbestimmung beigemessen wird, ist solche Einmütigkeit nahezu sensationell.

Bedenkt man zudem, dass die Ratsmitglieder sich als Teil der „scientific community“ verstehen, in welcher unbedingte Überzeugungen in etwa so beliebt sind wie Fußpilz, dann hat sich der Rat mit seinen insgesamt sieben Empfehlungen eigentlich recht weit aus dem Fenster gelehnt. Dabei sollte der die Stellungnahme durchdringende Wille des Gremiums, eine globale Debatte über Keimbahninterventionen nicht bloß zu fördern, sondern auch selbst mitzuprägen, keineswegs gering geachtet werden, auch wenn die acht „Orientierungsmaßstäbe“, auf die sich die Ratsmitglieder verständigten (siehe auch Seite 6) Katholiken kaum zufriedenstellen können. Denn im angelsächsischen und erst recht im asiatischen Raum sind die Bedenken, die sich Eingriffen in die menschliche Keimbahn gegenüber auftürmen, erheblich geringer ausgeprägt.

Wie auch immer die Regulierung solcher Eingriffe in das menschliche Erbgut, falls sie überhaupt gelingt, einmal aussehen wird, an der Erkenntnis des irischen Literaten Clive Staples Lewis (1898–1963) kommen weder Ethiker, noch Politiker, noch Keimbahningenieure vorbei. Der schrieb einst in „Die Abschaffung des Menschen“: „Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt“, bedeute in Wirklichkeit „die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.“

Themen & Autoren
Anja Karliczek Nationaler Ethikrat Stammzellenforschung

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14.09.2023, 09 Uhr
Stefan Rehder

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