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Susanne Schröter: "Der politische Islam schafft massive Probleme"

Die deutschen Islamverbände wollen islamische Normen wie Geschlechtertrennung in der Gesellschaft durchsetzen. Die Politik muss endlich die "Kirchen-Brille" abnehmen. Ein Interview mit der Islam-Expertin Susanne Schröter.
Debatte um den politischen Islam
Foto: Roland Weihrauch (dpa) | Die Spaltung, die es in der islamischen Welt gibt, erlebt man inzwischen auch in Deutschland. Etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime ist sehr säkular, die andere Hälfte eher fundamentalistisch.

Frau Schröter, Sie sagen, dass der politische Islam einen Stresstest für Deutschland darstelle. Aber ist der Islam nicht grundsätzlich politisch, wenn man "politisch" definiert als Anspruch, eine Gesellschaft mit seinen Werten zu gestalten? Schließlich ist der Koran ein sehr normatives Buch mit Regelungen bis weit in den Alltag hinein.

Es ist sehr wichtig, den politischen Islam von säkularen Strömungen zu unterscheiden. Da gibt es große Unterschiede, schon in der Exegese. Wie geht man mit den Suren um? Es gibt einen grundlegenden Dissens zwischen denen, die den Koran wörtlich nehmen und denen, die ihn historisch-kontextuell interpretieren. Ich nenne als Beispiel für diese Strömung nur Prof. Mouhanad Khorchide aus Münster. Er vertritt eine hermeneutische und nicht politische Interpretation, die die Texte in ihren historischen Zusammenhang stellt.

Aber gerade Khorchide wird von den organisierten Muslimen heftig attackiert.

Das ist das Problem und deren Einfluss ist sehr groß, aber sie sprechen bei weitem nicht für die Mehrzahl der Muslime. Nach meiner Erfahrung erleben wir die Spaltung, die es in der islamischen Welt gibt, inzwischen auch bei uns. Etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime ist sehr säkular, die andere Hälfte eher fundamentalistisch.

"Ein Problem besteht darin, dass [säkulare]
Muslime in der öffentlichen Debatte
zu wenig wahrgenommen werden"

Was zeichnet denn die Säkularen aus?

Vor allem ein großer Pragmatismus. Sie unterscheiden meist gar nicht mehr zwischen "halal" und "haram" (Anm.: rein und unrein), sie haben oft kein Problem Alkohol zu trinken, aber sie sind auch darin pragmatisch. Sie wollen nicht in einen Vollrausch geraten und sie würden nicht betrunken beten. Darüber hinaus aber ist Alkohol kein Tabu. Ein Problem besteht darin, dass diese Muslime in der öffentlichen Debatte zu wenig wahrgenommen werden.

Weil die Fundamentalisten viel lauter sind?

Ja, und weil die meisten Verbände diese Position vertreten. Die Fundamentalisten, die Vertreter des politischen Islams, nehmen den Koran wörtlich, und wenn es Widersprüche in den Suren gibt, dann gilt die spätere Offenbarung. Wir wissen, dass Mohammed zu Beginn seiner Verkündigung in Mekka zunächst moderate Positionen vertreten hat und sich erst später, mit dem Auszug nach Medina, radikalisiert hat.

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Können Sie den historischen Hintergrund des politischen Islams näher erläutern?

Im Grunde geht er auf den Zusammenbruch des osmanischen Kalifats zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Sein Anspruch war es immer, die ganze Welt muslimisch zu machen. Mit dem Niedergang des größten islamischen Reichs und dem Wiedererstarken der Europäer haben sich die Theologen gefragt, "warum hat Gott uns verlassen?" Ihre Antwort lautete, weil sie dem Säkularismus einen zu großen Raum gegeben hätten, mit der Konsequenz, zurück zum strengen Islam. Gerade in Ägypten, dem Mutterland der Muslimbrüderschaft, der weltweit einflussreichsten Bewegung des politischen Islam, war der Säkularismus im frühen 20. Jahrhundert weit verbreitet. Es gab Salons, Frauenemanzipation, eine Debattenkultur und anderes. Dagegen wandten sich fundamentalistische Agitatoren. Hassan al-Banna gründete schließlich 1928 die Muslimbrüderschaft, deren Erfolg auf zwei Säulen beruhte: Auf der einen Seite soziale Projekte und viel Engagement für die Armen. Und auf der anderen Seite die gewaltsame Zerstörung der säkularen Strukturen.

Hat diese Bewegung auch einen Einfluss auf die Muslime in Deutschland und anderen Teilen Europas?

Selbstverständlich, obwohl die entsprechenden Verbandsvertreter bestreiten, dass sie etwas mit der Bruderschaft zu tun haben. Wird so etwas behauptet, bringen sie sofort ihre Anwälte ins Spiel. Viele Akteure der Zivilgesellschaft, der Parteien und Verbände übernehmen diese Position, ohne sie weiter zu hinterfragen.

"Die säkularen Muslime sind lange nicht
so gut organisiert, weil sie zumeist
keine politische Agenda haben sondern
Religion als Privatsache betrachten"

Ob mit oder ohne offizielle Beteiligung der Muslimbrüderschaft ist der Einfluss des politischen Islams in Deutschland offenbar beträchtlich. Worauf basiert er?

Da gibt es verschiedene Ursachen, die zum einen in der Politik selbst liegen. Man möchte unbedingt, dass die Muslime teilhaben, was ja nicht verkehrt ist, betont aber die Religion in einer Weise, dass sich Fundamentalisten besonders angesprochen fühlen. Dazu kommt, dass die Politik die "Kirchen-Brille" aufsetzt. Sie möchten mit muslimischen Verbänden auf die gleiche Art zusammenarbeiten wie mit den Kirchen. Dabei ignorieren sie, dass diese Verbände gar nicht repräsentativ für die Muslime in Deutschland sind. Sie sprechen für weniger als 20 Prozent, sind allerdings gut organisiert und ausgesprochen erfolgreich im "Agenda-setting". Sie haben schließlich eine klare Agenda, nämlich islamische Normen in der Gesellschaft zu implementieren, z. B. die Geschlechtertrennung in der Schule. Die säkularen Muslime sind lange nicht so gut organisiert, warum auch? Sie haben zumeist keine politische Agenda, sondern betrachten Religion als Privatsache.

Welche sind die wichtigsten Verbände des politischen Islams? Und wer sind ihre Verbündeten in der islamischen Welt?

Zunächst der Zentralrat der Muslime, aus meiner Sicht ein ausgesprochen problematischer Verein, der zudem der kleinste dieser Verbände ist und verschiedene Organisationen des politischen Islams unter seinem Dach vereinigt. Dazu gehören die ATIB, die Union der türkisch-islamischen Kulturvereine in Europa, eine Nachfolgeorganisation der Grauen Wölfe und eine ganze Reihe von Vereinen, die vom Verfassungsschutz als muslimbrudernah beschrieben werden. Außerdem das Islamische Zentrum Hamburg, das den iranischen Mullahs nahesteht. Zu den Einrichtungen des politischen Islam gehören auch die DITIB, der verlängerte Arm des türkischen Religionsministeriums sowie Milli Görüs, der türkische Arm der Muslimbrüder.

"Es gibt inzwischen allgemeine
Vorbehalte gegen die DITIB
aufgrund der Nähe zu Erdogan,
aber selbst die DITIB wird noch immer hofiert"

Sie sehen die Reputation und den Einfluss der Verbände unangetastet?

Das kann man nicht pauschal sagen. Es gibt inzwischen allgemeine Vorbehalte gegen die DITIB aufgrund der Nähe zu Erdogan, aber selbst die DITIB wird noch immer hofiert, wie in Rheinland-Pfalz, wenn es um den konfessionsgebundenen Islamunterricht in Schulen geht. Der Einfluss der anderen ist ungebrochen, sie sind sogar ausgesprochen erfolgreich, nicht nur beim Agenda-setting in der Politik, sondern auch bei der Akquise von Geldern, unter anderen von der Bosch-Stiftung oder aus dem Programm "Demokratie leben".

Wie wichtig ist Islampolitik für die Gesellschaft?

Muslime in Deutschland sind eine sehr gewichtige Minderheit, die rein numerisch in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist. Wir haben zwar keine aktuellen Statistiken, doch dies ergibt sich schlicht daraus, dass über eine Million mehrheitlich muslimische Flüchtlinge ins Land gekommen sind und muslimische Familien eine weit höhere Kinderzahl haben als andere Gruppen. Es kann uns daher nicht egal sein, ob sich Muslime bei uns integrieren oder nicht. Die islamistischen Verbände wollen als privilegierte Gruppe gesehen werden und ihren Einfluss vergrößern. Dem nachzugeben halte ich für fatal.

"Zum Glück hat die Freiheit der
Wissenschaft noch viele Verteidiger"

Wie sollte die Politik stattdessen auf solche Forderungen reagieren?

Sie sollte die Muslime und ihre Vertreter so behandeln wie alle anderen religiösen Minderheiten: die Jesiden, die Aleviten, die orientalischen Christen und andere entsenden keine Vertreter in die Rundfunkräte, sie haben keinen Einfluss auf konfessionsgebundenen Unterricht oder die Besetzung universitärer Lehrstühle. Diese Privilegien sollten den muslimischen Verbänden entzogen werden.

Mit solch konkreten Forderungen sind Sie sicher nicht die typische Vertreterin der Sozialwissenschaften. Im Frühjahr waren Sie angesichts einer Ausstellung unter dem Titel "Das islamische Kopftuch, Symbol der Würde oder der Unterdrückung?" selbst Ziel massiver Angriffe seitens radikaler Muslime, die Ihnen "antiislamischen Rassismus" vorgeworfen haben. Wie war Ihre Erfahrung in der Auseinandersetzung?

Bei den Angriffen habe ich viel Solidarität erfahren, von der Universitätsleitung, dem ASTA, der Politik. Zum Glück hat die Freiheit der Wissenschaft noch viele Verteidiger. In meiner Disziplin, der Ethnologie, bin ich eine Dissidentin, weil ich das Primat des Kulturrelativismus kritisiere und eine Menschenrechtsposition einfordere.

"Es gibt in jeder Partei Menschen, die den
Einfluss der islamistischen Verbände
problematisieren, aber es herrscht auch viel
Unwissen oder sogar eine sträfliche Naivität"

Wie stehen diejenigen, die sich laut für Menschen-, Bürger- und Grundrechte einsetzen, zur Agenda der politischen Islamverbände?

Es gibt in jeder Partei Menschen, die den Einfluss der islamistischen Verbände problematisieren, aber es herrscht auch viel Unwissen oder sogar eine sträfliche Naivität. Vor allem bei Linken und Grünen sowie in der SPD ergreift man häufig Partei für die Verbände, weil man Muslime für einen unterdrückte Minderheit hält, die man paternalistisch beschützen muss. Leider verrät man dabei grundlegende emanzipative Positionen. Problematisch finde ich auch, dass man das Thema "Islam" häufig ganz vermeidet   ebenso wie problematische Aspekte der Migration. Davon profitiert momentan die AfD.

Die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter
Foto: FFGI | Susanne Schröter ist Professorin für Ethnologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und leitet das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam.

Das klingt alles nicht sehr optimistisch. Sehen Sie Perspektiven, dieser Entwicklung entgegenzusteuern?

Ich bin nicht ganz pessimistisch. Der politische Islam schafft massive Probleme, die langfristig auch von den Politikern, die jetzt mit ihm kooperieren, nicht ignoriert werden können. Ein wichtiges Problemfeld stellen die Schulen dar, vor allem natürlich Brennpunktschulen, in denen es viele muslimische Schüler gibt. Ich habe in Berlin und dem Rhein-Main-Gebiet Interviews mit Schulleiterinnen und Lehrerinnen geführt und erfahren, dass sie mit Respektlosigkeit seitens der Schüler und Eltern zu kämpfen haben und dass es religiöses Mobbing gibt, von dem nichtmuslimische Schüler betroffen sind, aber auch muslimische Schülerinnen, die beispielsweise kein Kopftuch tragen. Dass es kein Schweinefleisch in den Schulmensen gibt, ist schon lange selbstverständlich. Geschlechtertrennung gibt es nicht nur im Schwimm- und Sportunterricht, sondern auch im Klassenzimmer setzen sich Jungen und Mädchen zunehmend auseinander. Auch die Terrorgefahr ist bei weitem noch nicht gebannt. All das kann die Politik langfristig nicht ignorieren. Ich sehe uns deshalb vor einer gesellschaftlichen Zerreißprobe: Auf der einen Seite der immer einflussreicher werdende politische Islam und auf der anderen Seite die erstarkende Rechte. Angesichts dieser Zuspitzung, die niemand wünschen kann, bleibt zu hoffen, dass die Politik zur Weisheit findet und einen friedlichen und toleranten Mittelweg zwischen den Extremen geht.

Zur Person:

Susanne Schröter ist Professorin für Ethnologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und leitet das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam. Sie forscht schwerpunktmäßig zu den Themen Islamismus und Dschihadismus, progressiver und liberaler Islam, Frauenbewegungen in der islamischen Welt sowie Flüchtlinge und Integration. Professorin Schröter gehört auch der Deutschen Islamkonferenz an. Zuletzt erschien von ihr im Gütersloher Verlagshaus das Buch "Politischer Islam. Stresstest für Deutschland" .

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