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"Alles Liebe von Noa"

Nach Missbrauch und Vergewaltigung: Eine 17-jährige Niederländerin hungert sich zu Tode. Zum tragischen Suizid von Noa Pothoven Von Stefan Rehder
Lukasklinik für Behinderte in Liebenau
Foto: KNA | Auch Noa hatte mit ihren Eltern immer jemanden, der an ihrer Seite war. Doch zum Schluss fehlte ihr die Kraft.

Noa Pothoven ist tot. Sie wurde nur 17 Jahre alt. Der Tod der jungen Arnheimerin, die sich, wie ihre trauernden Eltern versichern, am 2. Juni im elterlichen Haus im Beisein ihrer Eltern zu Tode hungerte, hat viele Menschen schockiert und sprachlos gemacht. Vor allem aber zeigt er, was sexueller Missbrauch mit Menschen machen kann. Die Fakten: Mit elf Jahren wurde Noa eigenen Angaben zufolge auf einer Schulparty Opfer eines sexuellen Übergriffs. Ein Jahr später folgte ein zweiter Übergriff: „Es war das zweite Mal, dass mich ein Mann gegen meinen Willen an intimen Orten berührte“, schreibt sie in ihrer im vergangenen Jahr erschienenen Biografie „Winnen of Leren“ (dt.: „Gewinnen oder Lernen“). Mit 14 Jahren sei sie dann von zwei Männern vergewaltigt worden. „Ich erlebe die Angst und den Schmerz jeden Tag aufs Neue. Ich bin immer ängstlich und auf der Hut. Und mein Körper fühlt sich bis heute schmutzig an. Mein Haus, mein Körper wurde aufgebrochen – und das kann nicht rückgängig gemacht werden.“ Jahrelang kämpfte Noa mit postraumatischen Belastungsstörungen, Magersucht und Depressionen. Mehrfach versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Ihre Eltern weiht sie „aus Angst und Scham“ erst spät ein.

„Wie kommt es, dass sie sterben will? Wir bekamen nie eine echte Antwort. Wir hörten nur, dass das Leben nicht mehr lebenswert ist. Erst seit anderthalb Jahren wissen wir, welches Geheimnis sie all die Jahre bei sich trug“, erzählt die Mutter Ende 2018 im Interview mit der niederländischen Zeitung „De Gelderlander“.

Jahrelang kämpften die Eltern verzweifelt um das Leben ihrer Tochter. Mehrfach wird Noa in Kliniken für psychisch Kranke eingewiesen, teilweise unter Zwang und gegen ihren Willen. Zeitweise versetzen die Ärzte sie dort sogar in ein künstliches Koma, um sie erfolgreich über eine Sonde ernähren zu können.

Im vergangenen Jahr suchte Noa niederländischen Medienberichten zufolge dann ohne das Wissen ihrer Eltern eine Klinik in Den Haag auf, die sich auf die in den Niederlanden zulässige „Tötung auf Verlangen“ spezialisiert hat. Am 1. April 2002 trat in den Niederlanden das „Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung“ in Kraft. Das Gesetz sieht vor, dass Ärzte, die Patienten töten oder ihnen beim Suizid assistieren, dann straffrei bleiben, wenn sie die im Gesetz in Artikel 2 aufgeführten „Sorgfaltskriterien“ beachten. Danach muss der Arzt unter anderem zu der Überzeugung gelangt sein, „dass der Patient seine Bitte freiwillig und nach reiflicher Überlegung gestellt hat“ und „der Zustand des Patienten aussichtslos und sein Leiden unerträglich ist“. Jugendliche unter sechzehn benötigen dazu das Einverständnis ihrer Eltern. Noas Angaben zufolge wies die Klinik sie jedoch ab. Sie sei zu jung und solle warten, bis ihr Gehirn ausgereift sei, hätten die Ärzte ihr gesagt. Doch Noa will nicht länger warten. Sie mag die Gedanken an das Erlittene nicht länger ertragen und in ihrem missbrauchten Köper nicht länger leben.

Vatikan ist schockiert

Selbst der Vatikan zeigte sich von der Nachricht des Todes des jungen Mädchens schockiert. „Ich möchte zunächst die Seele der Verstorbenen den Händen Gottes anvertrauen. Der Herr lässt niemals jemanden im Stich. Deshalb versichere ich dieses Mädchen und ihre Familienangehörigen meiner Nähe und meines Gebets“, erklärte der Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben, Erzbischof Vincenzo Paglia, vergangene Woche gegenüber „Vatican News“.

Man dürfe allerdings auch nicht vergessen, dass das Leben der 17-Jährigen „von einer tragischen Wende geprägt“ gewesen sei. „Sie war Opfer von Missbrauch, und das führte zu Magersucht bis hin zu Depression. Das lässt uns die Grundsatzfrage stelle: Ist es denn nicht möglich, dass die Gesellschaft auf diese tragischen Probleme in einer lebensbejahenden Weise antworten kann?“, so Paglia weiter. „Das Ganze ist auf jeden Fall eine derbe Niederlage, gerade für die europäische Gesellschaft. Wenn ich daran denke, dass die nordeuropäischen Länder als fortschrittliche und reiche Nationen gelten, wo man gut lebt, dann sehe ich, dass gerade dort die Einsamkeit und Isolation sehr stark sind. Da fühlt man sich vielleicht reich und wohlhabend, ist aber gleichzeitig so allein und deshalb so zerbrechlich“, zitiert „Vatican News“ Paglia.

Vor ihrem Tod hat Noa Pothoven noch eine Wunschliste abgearbeitet: „Nichts Großes. Zum ersten Mal Roller fahren, eine Zigarette rauchen, Alkohol trinken, und mich tätowieren lassen“, schrieb sie auf ihrem Instagram-Account. Ihre Leiche ziert nun der Satz: „Du darfst nicht alles glauben, was Du denkst.“ Von ihren Followern auf Instagram verabschiedet sie sich mit einem letzten Post: „Nach Jahren des Kämpfens ist es vorbei.“ Sie habe aufgehört, zu essen und zu trinken. „Alles Liebe von Noa“.

Warum konnte ihr nicht geholfen werden?

Natürlich muss man fragen, ob Noa Pothoven nicht erfolgreicher hätte geholfen werden können. Es gibt Menschen, die wenigstens dem äußeren Anschein nach Vergleichbares erlitten haben, ohne mit dem Leben abzuschließen. Gab es wirklich keinen Weg, die Todessehnsucht des Mädchens erfolgreich zu bekämpfen und ihren gebrochenen Lebenswillen zu erneuern? Eine Frage, die bleibt. Fest steht: Falls es ihn gab, fanden ihn die Noa Pothoven behandelnden Ärzte und ihre Eltern, die lange um sie kämpften, nicht. Vielleicht aber auch nur deshalb nicht, weil das Mädchen ihnen den Zugang zu ihm verwehrte. Am Ende fügten sie sich jedenfalls dem Wunsch des Mädchens, das nicht länger über eine Sonde zwangsernährt werden wollte. Möge ihre geschundene Seele in Frieden ruhen dürfen.

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