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Kommentar um „5 vor 12“: Notwendige Orientierung

Die Handreichung des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz leistet rechtzeitig notwendige Orientierung. Sie sollte von vielen Ärzten gelesen werden.
Coronavirus - Essen
Foto: Marcel Kusch (dpa) | Es zählt der einzelne Patient.

Noch zeigt sich das deutsche Gesundheitssystem der COVID-19-Pandemie gewachsen. Wenn sich die Bürger weiterhin so diszipliniert und solidarisch verhalten wie derzeit, wenn Ärzte und Pflegepersonal die notwendige Schutzausrüstung erhalten und wenn die Kapazitäten, wie geplant, aufgestockt werden, kann das auch noch eine Weile so bleiben. Vielleicht bleiben Deutschland am Ende Szenarien, wie sie sich in Teilen Italiens und Frankreichs ereignen, und andernorts unvermeidbar ereignen werden, sogar ganz erspart.

Wenn nicht, dann werden auch hierzulande Ärzte Entscheidungen treffen müssen, wie sie der Großteil allenfalls aus Kriegsfilmen kennen dürfte. In einem weltanschaulich neutralen Staat mag es nicht Aufgabe der katholischen Kirche sein, Ärzte bei solchen Entscheidungen als Erste an die Hand zu nehmen und Empfehlungen auszusprechen. Sehr wohl aber ist es ihre Aufgabe, auf den Markt geworfene diesbezügliche Empfehlungen zu begutachten und vor dem Hintergrund einer Expertise, die in mehr als 2000 Jahren gereift ist, einem Stresstest zu unterziehen. Ganz besonders in Deutschland, wo katholische Krankenhausträger für die Versorgung von Patienten – mit und ohne COVID-19-Pandemie – systemrelevant sind.

Ein Weckruf zur Orientierung

Die gestern veröffentliche „Argumentationsskizze“ des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz darf daher als „Weckruf“ betrachtet werden, der für offenbar notwendige Orientierung sorgt, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. So gelungen die von sieben medizinischen Fachgesellschaften am 26. März in Berlin zur Diskussion gestellten „klinisch ethischen (Handlungs-)Empfehlungen“ für „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ in vielen Punkten ist, in einem unterliegt sie einem schwerwiegenden Irrtum.

Es ist das Verdienst katholischer Moraltheologen diesen erkannt und den Finger in die offene Wunde gelegt zu haben. Denn eine Triage, die die Zuteilung künstlicher Beatmung ausschließlich an deren Erfolgsprognose orientierte, und deshalb bereits beatmete Patienten von einer solchen wieder ausschlösse, wenn neu ankommende Patienten eine noch bessere aufwiesen, wird in der „Argumentationsskizze“ völlig zurecht als „unethisch“ und dem medizinischen Ethos widersprechend klassifiziert.

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Der einzelne Patient zählt

Menschen sind keine Autos, Beatmungsplätze keine Produktionsstrecken, auf denen so viele Chassis wie möglich gefertigt werden müssten. Jeder Patient ist eine Person, einzigartig und unwiederbringlich, durch andere weder ersetz- noch aufwiegbar. Der Effizienzgedanke mag auch bei einer Triage an sich berechtigt und nicht gänzlich belanglos sein, aber er darf weder zum Fetisch, noch zur alleinigen Maxime werden. Die einzige Frage, die den Arzt interessieren darf, ist letztlich, ob bei dem Patienten, den er gerade vor sich sieht, eine künstliche Beatmung indiziert ist oder nicht. Ist sie es, dann darf es für ihn keine entscheidende Rolle spielen, wie viele andere Personen, die ebenfalls einzigartig und unwiederbringlich sind, womöglich sterben, weil für sie für sie kein Beatmungsplatz zu Verfügung steht.

Die mit „Argumentationsskizze“ überaus bescheiden betitelte Handreichung des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz leistet rechtzeitig notwendige Orientierung in schwerer Zeit. Nun muss sie nur noch gelesen werden – von so vielen Ärzten wie möglich.

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Stefan Rehder Deutsche Bischofskonferenz Gesundheitssystem Gesundheitssystem in Deutschland Katholische Kirche

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