Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es diesen historischen Moment, nicht kurzfristige eigene Interessen zu verfolgen, sondern langfristig und am weltweiten Gemeinwohl orientiert zu handeln. Etwas so Utopisches wie der Marshallplan für Deutschland wurde ins Leben gerufen, nicht aus Selbstlosigkeit freilich, sondern in Zeiten des Kalten Krieges im klaren Bewusstsein der eigenen langfristigen Interessen.
Im Jahr Eins nach der „Flüchtlingskrise“ sollen die kurzfristigen Maßnahmen zur Schließung der Balkanroute, das Türkei-Abkommen und eine Reihe von Abkommen mit afrikanischen Regierungen, Geflüchtete auf der Suche nach Schutz in Ländern der Europäischen Union behindern. Hinzutreten neuerdings Vorschläge, die für sich in Anspruch nehmen, Fluchtursachen zu bekämpfen, etwa der „Marshallplan mit Afrika“ und andere Initiativen vor allem zur Förderung der Privatwirtschaft in Afrika. So kritisch diese Initiativen im Detail schon nach entwicklungspolitischen und migrationstheoretischen Einsichten zu bewerten sind, so schwer wiegt, dass sie am Kern des Problems globaler Fluchtbewegungen vorbeigehen.
Betrachtet man mit der notwendigen Nüchternheit die Zahlen des UNO-Flüchtlingswerks weltweit oder des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge deutschlandweit für die Jahre der erhöhten Flüchtlingsaufnahme 2015 und 2016, dann stammen 75–90 Prozent der Geflüchteten aus Konflikt- und Kriegsgebieten. Experten sprechen von 16 neuen oder neu aufgeflammten Konflikten in den letzten 17 Jahren. Was es also wirklich bräuchte, wäre eine Politik der Krisenprävention.
Krisenprävention umfasst alle Politikbereiche, weil Weltwirtschaft, Finanzspekulationen, Kreditvergabe, aber eben auch Entwicklungshilfe, Konfliktvermeidung und –aufarbeitung und vieles mehr, Konflikte schüren und verschärfen oder aber vermeiden können, etwa wenn zwielichtige Regime Kredite erhalten, wenn Diktatoren sich und ihre Familie absichern, indem sie gestohlenes Geld in Steueroasen verstecken, oder wenn mit Saudi Arabien gigantische Waffengeschäfte abgeschlossen werden – alles Maßnahmen jeweils im kurzfristigen Interesse einiger Profiteure. Das Budget des zivilen Friedensdienstes in Deutschland beträgt im Jahr 2017 45 Millionen Euro, die vorgesehenen Militärausgaben liegen bei 37 000 Millionen Euro. Die geplanten Ausgaben für alle Abkommen zur Fluchtbehinderung mit afrikanischen Regierungen und Regimen und der Türkei bei über 10 000 Millionen Euro. Enorme Mittel fließen folglich in fragwürdige bis fluchtverursachende Optionen.
Es bräuchte wieder einen historischen Moment für Reformen im Sinne der Krisenprävention. Dazu müssten sich westliche Industriestaaten auch ihrer Mitverantwortung für das Weltwirtschaftssystem und die Weltpolitik stellen. Krisenprävention trüge das Potenzial in sich, langfristig Flucht und Vertreibung tatsächlich zu verringern – anstatt dass Kriege die Früchte der Entwicklungszusammenarbeit wieder zerstören. Der Lösungsansatz Krisenprävention wäre seitens der Politik nahe bei den faktisch vorrangigen Ursachen von Flucht und Vertreibung. Er wäre bei allen Schwierigkeiten in der Umsetzung redlich gegenüber Bürger und Bürgerinnen. Krisenprävention würde bei Erfolgen präventiv zukünftige Not verhindern und auch die heftigen Debatten um die Flüchtlingsaufnahme in den nächsten Dekaden entschärfen. Sie wäre am weltweiten Gemeinwohl orientiert, ein Gemeinwohl, das die ganze Welt als uns betreffenden Lebensraum umfasst. Krisenprävention in manchmal gar nicht so fernen Ländern geschähe freilich nicht aus Selbstlosigkeit, sondern in Zeiten von Flucht und Krisen im klaren Bewusstsein unseres eigenen langfristigen Interesses an einem friedlichen Zusammenleben ohne Zwang zu Flucht und Migration.
Der Autor ist Leiter des Fachbereichs Wirtschaftsethik an der Kommende Dortmund, Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn.