Die Pandemie hat unser gesamtes Leben verändert. Arbeiten, Studium und Ausbildung, Freizeit und das soziale Miteinander finden immer mehr in der digitalen Welt statt. Studierende sitzen nicht mehr dicht gedrängt in Vorlesungen, sondern besuchen Webinare und Online-Vorlesungen von zu Hause aus. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind im Homeoffice und stimmen sich über Video-Konferenzen ab. Selbst im Bundestag und in den Landesparlamenten fanden viele vorbereitende Sitzungen in digitalen Formaten statt.
Doch mit den Lockerungen und der schrittweisen Rückkehr zu den „normalen“ Arbeits- und Lebensbedingungen gibt es überall ein Aufatmen. „Endlich kein social distancing mehr“ hört man fast an jeder Ecke. Sind wir nicht reif für die virtuelle Welt oder hinken wir in Deutschland der Digitalisierung viel zu sehr hinterher?
Nicht reif für die virtuelle Welt?
Die Möglichkeiten und Chancen der Digitalisierung sind immens: Globaler Wissenszugang und -austausch ist möglich, die Kommunikation mit Familie und Freunden auch im Ausland geht leicht, der Zugang zu Produkten ferner Märkte ist nur ein Mausklick weit weg und selbst Künstlern erschließt sich ein neues Medium. Die digitale Revolution ist der größte Veränderungsprozess der Menschheit. Doch auch in der digitalen Revolution bleibt der Mensch – Gott sei Dank – Mensch und nicht Maschine.
„Das Zauberwort „Digitalisierung“ löst für sich noch keine Probleme.“ Patrick Sensburg
Noch so wunderbare virtuelle Kommunikationsformen können den zwischenmenschlichen Austausch nicht ersetzen. Gestik, Mimik und Körperhaltung, welche alle stark in die Kommunikation hineinspielen, wenn nicht sogar sie maßgeblich prägen, verlieren durch Telefon- oder Videokonferenzen an entscheidender Bedeutung. Tausende von Jahren hat der Mensch gelernt, auch nonverbal zu kommunizieren und dies soll in kürzester Zeit in den Hintergrund rücken? Nein, die Menschen sehnen sich nach Kommunikation mit allen Mitteln – mit Händen und Füßen, mit Lachen und Weinen. Schwere Themen werden gerne in der Kaffee- oder Raucherpause gelöst und einen Kollegen auch einmal in den Arm zu nehmen, lässt sich nicht durch einen sogenannten Emoji ersetzen. Der Mensch ist eben ein soziales Wesen und kein Roboter.
Digitale Blasen
Eine reine Fokussierung auf die digitalen Medien kann auch dazu führen, dass die Menschen immer mehr dazu tendieren weg von der Realität und stattdessen in digitalen Blasen zu leben, worunter auch Formen von extremistischen Blasen fallen können. Daher müssen wir noch mehr darüber diskutieren, wo die Digitalisierung Sinn macht und uns neue Welten erschließt und wo wir analog und ganz herkömmlich glücklich und gut aufgehoben sind. Es bedarf keiner umfangreichen wissenschaftlichen Forschungen, um festzustellen, dass die Lockerungen der Corona-Sanktionen und die wieder größere Nähe der Menschen vielen eine Last nimmt. Es bedarf aber interdisziplinärer Forschung, wo Digitalisierung als Ergänzung Sinn macht und in welchen Lebensbereichen wir mit ihr sehr zurückhaltend sein sollten. Das Zauberwort „Digitalisierung“ löst für sich noch keine Probleme – weder auf der Arbeit, noch in der Schule und gute Lehrer lassen sich nicht durch Tablets ersetzen. Mit guten Lehrern lässt sich aber für unsere Kinder die Tür zu einer digitalen Welt der Möglichkeiten und Chancen öffnen.
Der Autor ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Die Kolumne erscheint in Kooperation mit der KSZ.
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