Papst Franziskus hat vor einigen Jahren viel Aufsehen erregt mit dem seither viel zitierten und auch viel geschmähten Satz „Diese Wirtschaft tötet!“ (Apostolisches Schreiben „Evangelii gaudium“ Nr. 53 aus dem Jahr 2013). Gemeint war – sicher auf dem Hintergrund der eigenen Erfahrung des Papstes aus seiner Zeit als Erzbischof in Buenos Aires mit einem oligarchischen und unsozialen Kapitalismus – eine nicht regulierte Wirtschaft, also so ziemlich das Gegenteil dessen, was wir in Kontinentaleuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit Alfred Müller-Armack (in seinem 1947 erschienenen Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“) „Soziale Marktwirtschaft“ nennen. Es ist dem Papst nicht unbedingt übel anzukreiden, dass er bisher eher wenig deutlich positiv auf diese Form der regulierten und an ethische Grundwerte gebundene Wirtschaft eingegangen ist, aber zu bedauern ist es doch ein wenig: Denn das Modell der Sozialen Marktwirtschaft entspricht ziemlich genau dem, was im Auftrag des Papstes jetzt in dem neuen Vatikan-Dokument mit dem umständlichen Titel „Erwägungen zu einer ethischen Unterscheidung bezüglich einiger Aspekte des gegenwärtigen Finanzsystems“ der Glaubenskongregation und des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen dargelegt wird: Es braucht unbedingt und mehr denn je eine Regulierung der Wirtschaft und der Finanzmärkte.
Das hängt mit der im Titel schon angesprochenen ethischen Unterscheidung zusammen: Unterschieden wird nämlich von der katholischen Soziallehre und überhaupt von der katholischen Moraltheologie im Anschluss an die griechische Philosophie zwischen Technik und Herstellen einerseits und Ethik und Handeln andererseits. Die moderne Moraltheologie hat dies entfaltet in der Unterscheidung zwischen „herstellendem Tun“ (etwa das Herstellen eines Messers) und dem „ausdrückenden Handeln“ (etwa das Küssen eines Menschen). Das Herstellen eines Messers hat an sich und aus sich heraus noch keine ethische Relevanz und kein ethisches Ziel; es kann das Schneiden von Wurst oder das Töten eines Menschen im Blick sein, das wird aber nicht durch das Herstellen selbst festgelegt, sondern durch den Willen des Menschen, der das Messer herstellt oder in Auftrag gibt. Der Kuss hingegen besitzt in sich schon ethische Qualität, da er (quasi „von Natur aus“, in der allgemein menschlichen Gewohnheit, also „naturrechtlich“) Ausdruck von Liebe ist. Umso größer die ethische Fallhöhe und die Möglichkeit der Entgleisung: Wird der Kuss eingesetzt nicht zum Ausdrücken von Liebe und Zuneigung, sondern zum puren egoistischen Lustgewinn oder gar zum Verrat, wie beim berühmt-berüchtigten Judas-Kuss, dann wird er buchstäblich pervertiert: umgedreht in seiner ursprünglichen Grundbedeutung und damit pervers und sittlich schlecht.
Schon die griechische Philosophie ab Sokrates (+ 399 v. Chr.) machte diese bedeutsame Unterscheidung mit den grundlegenden Begriffen von „poiesis“ (Herstellen von Dingen) und „praxis“ (Ausdrücken von Tugend und inneren Haltungen) und sah gerade darin das Wesen des Menschen, der zur Ethik berufen ist, und nicht nur zur Herstellung von nützlichen Dingen und befriedigenden Zuständen. Genau darin unterscheidet sich ja der Mensch vom Tier und von der Pflanze, die ansonsten auch Lebewesen sind, die aber gleichsam im vorethischen Raum leben: Das Eichhörnchen sammelt im Herbst nützlicherweise Nüsse, um zu überleben. Der Mensch hingegen kann zwar auch nützlicherweise in Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter Nüsse und Aktien und Grundstücke sammeln und horten, er kann freilich auch „unnützlicherweise“ ein Leben lang treu in Ehe und Freundschaft leben oder gar für einen anderen Menschen in den Hungerbunker gehen, wenn er zufällig Maximilian Kolbe heißt. Wir nennen das christlich gesprochen Heiligkeit, und das zeigt: Der Mensch hat mehr als nur eine instrumentelle Vernunft, die das bloße Überleben sichert. Er hat vielmehr und weit darüber hinausgehend eine ethische Vernunft, die das gute Leben sichert, was keineswegs identisch ist mit dem Überleben, anders als beim Eichhörnchen. Der Mensch kann demnach unter Umständen und im äußersten Fall sogar auf das Überleben verzichten um des guten Lebens und um der Ewigkeit willen. Genau dies meint das Evangelium übrigens mit dem markanten Satz: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer es aber um meinetwillen verliert, wird es gewinnen!“ (Mt 16, 25)
Das Herstellen von Messern kann, muss aber nicht gut sein; das Herstellen von Giftgas kann unter ganz bestimmten Bedingungen nötig sein (als Pflanzen- oder Insektenvertilgungsmittel); das Herstellen von Profit und Aktiengewinnen kann gut sein, wenn die ethische Motivation in den Köpfen der Akteure gut ist, und das heißt: auf das umfassende „integrale“ Wohl des Menschen, jedes Menschen als Person, besonders des je Schwächeren ausgerichtet. Umfassendes Wohl heißt aber christlich gesprochen: Ein Wohl, das nicht auf das pure Überleben fixiert ist und mit dem Tod endet, sondern ein Wohl, das auf das Ziel in der Ewigkeit, auf das Ziel des Lebens in der Liebe Gottes ausgerichtet ist. Wenn das Ziel des Menschen das ewige Leben in der Liebe Gottes ist, dann ist all das gut und nützlich, was diese Liebe jetzt schon einübt, und alle Dinge und Instrumente, auch Geld und Aktien und Finanzmärkte, sind danach zu beurteilen, ob sie diese Einübung in Liebe und Vertrauen und Solidarität und Gemeinschaft fördern. Wenn freilich gar kein ewiges Ziel des Menschen existiert und es nur um ein möglichst sorgenfreies und bequemes und langes Überleben geht, dann gibt es auch keine überzeitlichen ethischen Maßstäbe mehr, sondern nur einen sozial verträglichen Austausch von letztlich immer egoistischen Interessen, und dann gilt in der Tat: „Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt!“ (Fjodor Dostojewski, Briefe 1833-1881) Gemeint ist: Je langfristiger die Perspektive, desto besser die Entscheidung. Und Gott ist der theologische Name für die langfristigste aller Perspektiven.
Das neue Vatikan-Dokument greift diese uralte und wichtige Unterscheidung zwischen Technik und Ethik auf mit der Unterscheidung von Wissen und Weisheit, die eben der Unterscheidung von Technik und Ethik entspricht: Finanztechnik und Wirtschaftstechnik gebiert noch längst keine Ethik, diese entsteht erst über das Nach-Denken, buchstäblich am Ende eines erfolgreichen Arbeitstages oder eines Arbeitslebens: Was hast du eigentlich gewonnen? Freilich wäre es naiv und allzu simpel zu glauben, es würde in einer komplexen globalen Wirtschaft reichen, an den guten Willen und die gute Motivation der Akteure oder gar der Banken und Finanzinstitute zu appellieren. Es braucht vielmehr nach Überzeugung der katholischen Soziallehre den starken Staat und gute Gesetze, um eine bloße Marktwirtschaft und einen bloß profitorientierten Kapitalismus zur Sozialen Marktwirtschaft und zur regulierten Finanzwirtschaft zu machen: Bankenaufsicht und Transparenz von Transaktionen und Steuergesetze gehören wesentlich dazu. Gerechtigkeit wird vom Staat erzwungen, um Liebe möglich zu machen. Erst dann tötet eine Wirtschaft nicht, sondern dient wirklich der umfassenden gerechten Entwicklung jeder menschlichen Person auf dieser Erde – in Vorbereitung auf Gottes gute Ewigkeit.
Die Kolumne erscheint in Kooperation mit der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle.