Was ist los in Deutschland? Eine Zeitung fragt den Vorsitzenden der Jungsozialisten (Sic!) „Was heißt Sozialismus für Sie, Herr Kühnert?“, und das Land steht Kopf. Wer die Debatte verfolgt, kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass die meisten Empörten das Interview überhaupt nicht gelesen haben. Was ist falsch, wenn man sich aktuell Fragen stellt, ausgehend vom Unbehagen an und „Nichteinverständnis mit der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung?“ Was ist falsch an der These: „Was unser Leben bestimmt, soll in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden?“ „Die Wahrheit ist doch, dass unsere Gesellschaft schon lange nicht mehr systemisch diskutiert.“ Genau!
Politik zu Lasten der Armen
Spätestens seit Dani Rodriks Buch „Das Globalisierungsparadox“ wissen wir, dass von den drei Gestaltungskräften wirtschaftliche Hyper-Globalisierung, Staat und Demokratie die zwei ersten ein Bündnis eingegangen sind, zu Lasten der Demokratie.
Im Zuge des letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung entstand die Studie von Armin Schäfer mit dem Titel: „Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015.“ Die Autoren stellen fest: In Deutschland „besteht (…) eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen“. Und wer wissen will, wie das funktioniert, bedenke etwa die Meinungsmache der „Stiftung Familienunternehmen“ zur Zerschießung der Erbschaftssteuerreform und zur Privilegiensicherung großer Firmenerben.
Mehr Beteiligung
„Eigentum verpflichtet“, heißt es im Grundgesetz. Wie aber der Cum-Ex Skandal oder der Dieselbetrug offenbaren, werden dem Gemeinwesen seitens der ohnehin Reichen und Mächtigen Milliarden Euro an Steuern vorenthalten, nur um den eigenen Reichtum zu mehren. Arbeitnehmern in Deutschland geht es dort (noch) gut, wo gewerkschaftliche Mitbestimmung noch funktioniert. Aber was ist mit dem skandalös großen und weiter wachsenden Niedriglohnsektor? Wo haben deren Interessen einen Platz? Sind das alles keine guten Gründe, mehr Mitspracherecht, mehr Demokratie zu fordern?
Liest man das Kompendium der Katholischen Soziallehre, so findet man dort durchaus Vergleichbares: Zum Beispiel Nr. 189: Eine Konsequenz „der Subsidiarität ist die Beteiligung, (…) durch die der Bürger einzeln oder gemeinsam mit anderen direkt oder durch die Vermittlung der jeweiligen Repräsentanten zum kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben der Zivilgemeinschaft beiträgt, der er angehört. (…) Sie kann nicht auf einen bestimmten Sektor des gesellschaftlichen Lebens begrenzt oder beschränkt werden, da sich ihre Bedeutung für das vor allem menschliche Wachstum auf Bereiche wie die Arbeitswelt und die wirtschaftlichen Aktivitäten in ihrer inneren Dynamik, auf Information und Kultur und ganz besonders auch auf die höchsten Ebenen des gesellschaftlichen und politischen Lebens erstreckt (…). So gesehen ist es unumgänglich, die Beteiligung vor allem der eher Benachteiligten und den Wechsel in der politischen Führung zu begünstigen, um zu verhindern, dass sich verborgene Privilegien etablieren.“ Dabei gibt es sie ja schon, die Institutionen im Banken- und Wirtschaftsbereich, die eine stärkere Demokratisierung praktizieren: etwa all jene, die sich dem Konzept der Gemeinwohlökonomie verpflichtet fühlen. Warum also nicht mehr davon?
Markt braucht staatliche Regulierung
Und was eine stärkere Rolle des Staates betrifft: Angesichts der immer deutlicher werdenden systemischen Unfähigkeit von Markt und Wettbewerb, Ungleichheit und Ressourcenübernutzung in den Griff zu bekommen – was spricht dann gegen die Rückkehr zu einer stärkeren Regulierung, zu stärkeren Vorgaben durch den Staat, wie es ursprünglich in der sozialen Marktwirtschaft der Fall war, bevor diese neoliberal verformt wurde?
Oft vergisst man, dass gerade die staatlich finanzierte Forschung und Entwicklung neuen Techniken zu Durchbrüchen verhalf: Dort wurden Steuergelder geduldig und langfristig eingesetzt, wo „Risikofinanzierer“ sich mangels Profitabilität zurückhielten. Gerade die epochale Herausforderung des Klimawandels ist ein Anlass, statt nach privaten Investoren wieder nach dem „Unternehmerischen Staat“ (Mariana Mazzucato) zu rufen.
Kevin Kühnert stellt eine richtige und wichtige Frage, nämlich die, ob ein „Weiter-so-und-mehr-davon“ die Antwort auf unsere aktuellen Gegenwartsprobleme ist, oder ob wir uns nicht alle verstärkt mit Alternativen dazu beschäftigen müssen. Er erläutert seine eigene Vision dazu.
Dafür sollten gerade die Christen (auch christliche Politiker) dankbar sein: Denn auch Papst Franziskus fordert die Suche nach Alternativen zum Neoliberalismus ein, ohne dass seine Appelle bislang zu einer angemessenen praktischen Diskussion geführt hätten.
Man kann zu Kevin Kühnerts Analyse der Ausgangssituation verschiedener Meinung sein. Man kann Kevin Kühnert auf der Sachebene bessere Vorschläge entgegenstellen. Alle aber, die ihn persönlich attackieren, beweisen damit zweierlei: Auch sie ahnen, dass die Zeit des „Weiter-so-und-mehr-davon“ wirklich vorbei ist. Und: ihre Hilflosigkeit, weil sie auf der Sachebene keine Antworten oder Alternativen haben.
Der Autor ist katholischer Sozialethiker. Seine Schwerpunkte liegen in der Auseinandersetzung mit den Fragen der Migration, Globalisierung und Armutsbekämpfung. Er gehört dem Jesuitenorden an.
In der letzten Woche erschien in der Debatte zu den Thesen von Kevin Kühnert bereits ein Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels. Die Debatte wird fortgesetzt.