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Die venezianische Insel San Michele und der Tod

Zum Friedhof übers Wasser: Auf der venezianischen Insel San Michele ist das Thema „Tod“ allgegenwärtig.
Schifffahrt entlang San Michele - der Friedhofsinsel von Venedig mit Blick auf die Insel Murano
Foto: fotolia.de | Die Friedhofsinsel ist eine napoleonische Erfindung. Bis die Franzosen Venedig 1799 besetzten, hatten die Bürger der "Serenissima" ihre Toten auf den zahlreichen Gottesäckern beigesetzt.

Venedig und der Tod – das ist ein unsterbliches Thema, das der Schriftsteller Thomas Mann in einer Novelle und der Regisseur Luchino Visconti in einem Film vorbildlich aufgegriffen haben. In beiden Meisterwerken geht es – passend zu den Pandemie-Zeiten, in denen wir derzeit leben – um die Ausbreitung einer Seuche, nämlich der Cholera-Epidemie, der die Hauptfigur Gustav von Aschenbach am Ende zum Opfer fällt. Auf der Friedhofsinsel der Lagunenstadt, offiziell „Isola San Michele“ genannt, ist das Thema Venedig und der Tod naturgemäß allgegenwärtig. Überstrahlt aber wird es von einem Gefühl zeitlosen Friedens und der Hoffnung auf ein anderes, leichteres Leben.

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Mit Blumen die Toten ehren

Der „Vaporetto“, der Wasserbus zur Insel San Michele, legt pünktlich ab. Wie so vieles, was das tägliche Leben betrifft, kann man in Venedig auch den Friedhof nur mit dem Schiff erreichen. Vor allem Frauen sind es, die mit Blumensträußen in der Hand, darunter dunkelroten Rosen, bunten Astern oder weißen Chrysanthemen, zur Insel übersetzen, um ihre Toten zu ehren.

„Ihre Seele war Gott so lieb, so beeilte er sich, sie aus der Mitte des Bösen hinwegzunehmen.“

Langsam nähert das Schiff sich der langen Backsteinmauer, die die Friedhofsinsel San Michele markiert. Mit einem schweren Rucken legt der Vaporetto in der Nähe der gleichnamigen Kirche an. Für Pater Angelo, dem Franziskanermönch vor dem Gotteshaus, steht fest: Zum Tod haben die Venezianer ein besonderes Verhältnis. „Irgendein Doge musste einmal zu üppigen Blumenschmuck bei Begräbnissen verbieten, so beliebt war der Totenkult“, merkt er schmunzelnd an. „Daran hat sich nicht viel geändert.“ Zu Allerheiligen und Allerseelen, wenn der Fährdienst zur Insel umsonst ist, schleppen die Venezianer ganze Berge von Blumensträußen zu den Gräbern ihrer verstorbenen Angehörigen und Freunde.

Erfindung Napoleons

Die Friedhofsinsel ist eine napoleonische Erfindung. Bis die Franzosen Venedig 1799 besetzten, hatten die Bürger der „Serenissima“ ihre Toten auf den zahlreichen Gottesäckern beigesetzt. Aus hygienischen Gründen – für uns heute in Corona-Zeiten besser nachvollziehbar denn je – ordnete Napoleon im Jahr 1804 die Errichtung eines Zentralfriedhofs außerhalb der Stadt an, wofür in Venedig naturgemäß nur eine Insel in Frage kam. Bis weit in die Nachkriegsjahre hinein gestaltete sich der Leichenzug in der Lagunenstadt als eine Parade von schwarzen Gondeln. Wo die Familientradition es verlangt, wird der Sarg auch heute noch auf der Gondel nach San Michele gefahren. Doch ein solches Begräbnis gibt es höchstens zehnmal im Jahr. Venedigs Tote fahren längst, genau wie die Lebenden, mit dem Motorboot – und selbst das ist nicht mehr aus schwarzem Holz, sondern aus hellblauem Kunststoff.

50.000 Euro für ein Familiengrab

Für ein Familiengrab auf der Insel muss man tief in die Tasche greifen. Rund 50 000 Euro kostet das Grabhäuschen, mit dem die strengen architektonischen Vorschriften für den historischen Friedhof berücksichtigt werden müssen; damit erwirbt man das Ruherecht auf 100 Jahre. Einzelgräber werden hingegen schon nach zehn Jahren umgebettet in das Beinhaus.

Der Eindruck beim Betreten des Friedhofs ist ein unübersehbares Blumenmeer, aus dem Grabsteine und Kreuze stumm und weniger wichtig herausragen. Wo die Toten in Nischenwänden übereinanderliegen, sind es nicht enden wollende Blumenspaliere, ein Strauß über dem anderen. Wie leuchtende, flackernde Fackeln verbreiten sie Licht und Farbe über grauem Marmor und dunklem Kies. Auf den Grabsteinen geben kleine Fotografien, meist in Schwarz-Weiß, das Bild der Toten wieder. Kann der Spruch auf dem Grab eines jungen Mädchens, auf dessen monumentaler weißer Marmorplatte goldene Ballettschuhe und Porzellanfigürchen von Tänzerinnen stehen, trösten? Er lautet: „Ihre Seele war Gott so lieb, so beeilte er sich, sie aus der Mitte des Bösen hinwegzunehmen.“

Gondeln auf Grabsteinen

In Inschriften geben viele Witwen ihrem Schmerz Ausdruck. Eine Ehefrau bekennt nach dem Tod ihres Mannes, sie warte darauf, sich ihm zu vereinen. Eine andere Witwe zeigt sich „inconsolabile“ (untröstlich). Auf den Grabsteinen von Gondelbauern und Gondolieri findet man noch eine Gondel. In allen Jahrhunderten ist offenbar in Venedig der heftige Schmerz über die Toten eher noch gewachsen. Und die Bindung der Venezianer an ihre Stadt trägt über den Tod hinaus. Manche von ihnen wünschen sich sogar einen goldenen Markuslöwen für ihren Sarg.

Berühmte Verstorbene

Musikfreunde und Ballettfans aus aller Welt pilgern gern zur Friedhofsinsel. Im orthodoxen Teil liegt seit 1929 der große russische Ballettimpresario Sergei Diaghilew begraben, in seiner Nähe Igor Strawinsky mit seiner Frau Vera. Auf dem Steingrab des berühmten russischen Komponisten liegen immer Blumen. Ein Franzose mahnt auf einem kleinen Zettel, den er hinterlassen hat: „Soyez les poetes de notre vie (Seid die Poeten unseres Lebens).“ Und ein Militärdirigent namens Robert Gregory dankt dem „Kollegen“ für seine Impulse, die er der modernen Musik gegeben hat. Igor Strawinsky, 1971 in New York gestorben, hatte in Venedig bei seinem Landsmann Diaghilew beerdigt werden wollen, mit dem zusammen er epochale Ballettwerke wie den „Feuervogel“ und „Petruschka“ geschaffen hatte. Beim Fernsehbericht über das Begräbnis Strawinskys, dessen schwarzverhüllter Sarg in einer schwarzen Gondel zur letzten Ruhestätte gerudert wurde, erkannten viele Zuschauer, dass selbst der Tod in Venedig seine Faszination hat.

Düsterer Teil des Friedhofs

Der evangelische Teil des Friedhofs wirkt verglichen mit den bunten Feldern und Wiesen düster. Kreuze und Grabsteine scheinen sich unter der Last des Todes geneigt zu haben; in Wirklichkeit gab der sumpfige Boden nach. In diesem Bereich ist neben adligen Gesandten, Literaten und Militärs, die oft aus England oder Deutschland stammten, der amerikanische Schriftsteller Ezra Pound beerdigt.

Was auf der Friedhofsinsel San Michele besonders beeindruckt, ist die schwerelos-heitere, mediterrane Stimmung, die über der Anlage hinter rostroten Mauern liegt. Lange Zypressenreihen und riesige Palmen sorgen dafür, dass sich auch im Herbst die Tristesse unserer Friedhöfe gar nicht erst einstellen kann. Alles Schwere, Bedrückende, an Verfall Erinnernde ist auf dieser Toteninsel ganz fern – und doch gemahnt sie uns nicht nur in Corona-Zeiten auf ihre ganz eigene Art an unsere unabdingbare Endlichkeit.

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