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Taipeh: Eine Stadt wie ein Feuertopf

Wenn High-Tech-Kapitalismus auf traditionelle Kultur trifft, kommt eines der faszinierendsten Reiseziele in Fernost heraus – Taipeh.
Taipeh
Foto: Thomas Schneider | Der Longshan-Tempel in Taiwans Hauptstadt Taipeh: Qualmende Räucherstäbchen in großen Mengen gehören im bedeutendsten Tempel der Stadt der Vergangenheit an.
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Nur noch ein einziges Räucherstäbchen für jeden. Bedauerlich, aber die Rationierung werde ganz bestimmt keine religiöse Revolution auslösen, glaubt Huang Shu-wei, stellvertretender Leiter des Longshan Tempels in Taipeh. Die Gläubigen im bekanntesten Tempel der Stadt dürfen keine Räucherstäbchen mehr im Dutzend kaufen. Vorbei die Zeiten, als ganze Bündel qualmender Stangen von Götterstatue zu Götterstatue getragen wurden, Rauch in dekorativen Schleiern den Goldglanz des Tempels benebelte und die spirituellen Feinstaubwerte besorgniserregend anstiegen. Weil Gefahr für die Gesundheit droht, müssen Taiwans Götter sich nun bescheiden und bald vermutlich völligen Verzicht üben, denn in einigen Tempeln werden bereits heute Räucherstäbchen durch essbare Teigstangen ersetzt.

Größer als der Glaube ist der Appetit

Eine äußerst erfolgversprechende Strategie. Größer als der Glaube ist in Taiwan nämlich zweifelsfrei der Appetit. Essen ist hier eine nationale Obsession, und die Angewohnheit, alles zu vertilgen, was sich bewegt, hat dazu geführt, dass Taiwans Tierwelt in hübsch handliche Portionen zerlegt wird und auf Taipehs Nachtmärkten in Form frittierter Fledermäuse am Spieß, gebratener Tintenfischstückchen im Becher oder in Blätter gewickelter Fleischklopse feilgeboten werden. Steigt aus den kochenden Kesseln der Garküchen aber ein Geruch nach Schweiß, Fäulnis und brennendem Müll, wird es erst richtig lecker. Je ekliger der Gestank, desto köstlicher der Geschmack, lautet die goldene Regel der Stinky-Tofu-Freunde.

Eingelegt in einer fermentierten Gemüselake gärt der Tofu wochen-, manchmal sogar jahrelang vor sich hin. Das Endergebnis mit Blauschimmelkäse zu vergleichen, ist so unangemessen, wie es unangemessen ist, Taipehs Müllabfuhr-Melodie als Musik zu bezeichnen. Allabendlich fahren die Kehrichtsammler durch die Viertel der Stadt und spielen dabei in Endlosschleife eine rattenfängerwürdige Flötenfassung von Beethovens Für Elise, damit die Leute ihren Abfall runterbringen. Taiwan ist Weltmarktführer in der Produktion von Hightech-Geräten, verkauft mehr Notebooks, Mikrochips und Motherboards als irgend ein anderes Land, hört sich dann aber so an, als wäre seine Klang-Software im Atari-Zeitalter stehen geblieben.

Zahlreiche Kuriositäten in Taipeh 

Auf einer Landkarte taiwanischer Kuriositäten würde Taipehs Müllabfuhr eine besondere Markierung ebenso verdienen wie die porentief reine Metro der Millionenmetropole, wo die Einfahrt der Züge mit sanften Klängen von Chopins Nocturne angekündigt wird und in deren Wagen es selbst im Feierabendverkehr stiller ist als in unseren Bibliotheken. Taipeh hat Manieren. Von der lauten, schmutzigen und chaotischen Stadt von einst ist nur hie und da ein Dickicht aus Wellblechbauten geblieben, das tief unter den Wolkenkratzern wuchert und von Zeiten erzählt, als selbst Länder wie Laos und Vietnam reicher waren als Taiwan.

Heute reisen vor allem Chinesen gern nach Taipeh, um sich in einer der mittlerweile wohlhabendsten Metropolen in Ostasien anzuschauen, wie ihr Land aussehen würde, wenn Mao Zedongs Kommunisten den Bürgerkrieg 1949 nicht gewonnen hätten. In der Folge flohen 1,5 Millionen Festlandchinesen unter Führung des nationalistischen Parteichefs Chiang Kai-shek nach Taiwan und die bittere Saga der „zwei Chinas“ begann – der kommunistischen Volksrepublik China auf dem Festland und der Republik China auf der Insel im Pazifik. Allerdings betrachtet die Regierung in Peking Taiwan bis heute als abtrünnige Provinz und verhindert jegliche Unabhängigkeitsbestrebungen. Dennoch blieb dem kleinen Taiwan ein großer Triumph. Die Bürgerkriegsflüchtlinge nahmen die komplette Kunstsammlung, die Chinas Kaiser über Jahrtausende gehortet hatten, mit in ihr taiwanisches Exil. Seitdem muss die Volksrepublik nicht nur mit dem Verlust ihres nationalen Erbes leben, sondern auch die Schmach ertragen, dass die rund 700 000 Artefakte zu Taipehs größter Touristenattraktion geworden sind.

Ein Kohlkopf als Prunkstück im Museum

Nur ein Bruchteil dieser weltweit größten Sammlung chinesischer Kunst kann heute im National Palace Museum gezeigt werden – Malerei, Keramiken, Porzellan, Lack- und Kalligraphiearbeiten. Die Ausstellung gehört in eine Liga mit Louvre, New Yorker MoMa und British Museum. Stundenlang stehen Besucher sich die Beine in den Bauch, um das Prunkstück des National Palace Museums zu sehen – einen Kohlkopf. Der aus weiß-grüner Jade geschnitzte Chinakohl, an dem einige Heuschrecken nagen, gilt gewissermaßen als Mona Lisa des Museums.

Im Vergleich mit diesem wertvollen Gemüse-Imitat wirken die Nachbildungen von Chiang Kai-sheks Lieblingsspeisen arg kümmerlich, aber anders ließ sich die bombastische Gedenkstätte zu seinen Ehren wohl nicht füllen. Neben Plastik-Forelle und Krautsalat werden massenhaft Fotografien, Tagebücher, Gemälde, Uniformen und sogar die Unterhosen des Generalissimus gezeigt. Das Highlight der Ausstellung ist ein glänzend schwarzer, kugelsicherer Cadillac, den Chiang nur ein einziges Mal genutzt haben soll, so groß war sein Fuhrpark. Vor einem überdimensional großen Bronzestandbild des Führers schwingen Soldaten zu jeder vollen Stunde in einem theatralisch choreografierten Wachablöse-Ballett ihre Gewehre durch die Luft, derweil im Park der Gedenkstätte eine Seniorengruppe mit Atemübungen kosmische Lebensenergie einfängt.

Zahme Eichhörnchen lassen sich mit Instantnudeln füttern, und das komplette Orchester der nahegelegenen Konzerthalle nutzt den Garten für seine Proben und gibt kostenlose Freiluftkonzerte. Mit Beginn der Dunkelheit nehmen Hip-Hopper und Skateboarder den Platz der Musiker ein, und überall wird die Neonreklame angeschaltet, die nachts über die verspiegelten Fassaden von Taipehs Hochhäusern pulst, als regnete es Sternschnuppen.

Für jeden etwas Passendes dabei

Für diese bunte Mischung gibt es keine bessere Metapher als Huoguo, besser bekannt als Feuertopf oder chinesisches Fondue. Das beliebte Gericht besteht aus einem mit kochender Brühe gefüllten Topf, in den ganz nach geschmacklichen Vorlieben Gemüse, Fleisch, Fisch und andere Zutaten hinzugefügt werden.

Auch Taipeh ist so ein Feuertopf, eine Mischung aus den verschiedensten Dingen, aus subtropischer Temperatur draußen und arktischer Klimaanlagen-Kälte drinnen, aus Opulenz der Nachtmärkte und nüchternem Design der Hightech-Parks, aus buddhistischen Tempeln und Fast-Food-Filialen – und wie immer beim Huoguo: Es ist für jeden etwas Passendes dabei.

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