Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Heidelberg

Einfach zu einfach

Der Physiker Markolf Niemz will mit der Wissenschaft im Rücken zu mehr Spiritualität als Gestaltform zeitgemäßen Glaubens hinführen.
Wissenschaft und Religion
Foto: adobe stock | Wissenschaft und Religion

Die Welt mit anderen Augen sehen. Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität“, so lautet der vielversprechende Titel des aktuellen Buches von Markolf Niemz, Professor für Medizintechnik an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Die Themen, die der Physiker Niemz darin adressiert, sind nicht neu. Es sind vielmehr die uralten Fragen des Menschen nach Raum und Zeit, Sein und Werden, Gut und Böse, Huhn und Ei, Schöpfer und Schöpfung, Liebe und Verständnis. Inhaltlich also ein Standardprogramm mit einem bunten Strauß Letzter Fragen, entfaltet über sechs Kapitel.

Lesen Sie auch:

Das Buch ist jedoch stilistisch sehr originell, weil es die Leserin und den Leser an die Hand nimmt und wirklich durch die Gedankengänge führt, dabei zum Teil auch experimentell wird, sowie konkret zum Mitdenken anregt. Bereits der Einband trägt dazu bei: Schaut man intensiver darauf, beginnen sich die Wellenformen rund um das Titelfeld vor den Augen zu bewegen. Eine optische Täuschung, die einlädt, genauer hinzuschauen, gerade auf die Dinge, die im dialektischen Denken nach einer klaren Entscheidung verlangen: Wissenschaft oder Glauben. Tertium non datur.

Wissen und Glauben als unterschiedliche Sichtweisen

Doch Niemz sagt: Nein! Es geht beides. Und: Es gibt ein geteiltes Drittes, das beide Magisteria übersteigt. Die Sphären verschwimmen, verschmelzen, werden versöhnt. Wissen und Glauben sind zwei Sichtweisen auf die eine Wirklichkeit. Grundanliegen des Buches ist es also, den Nachweis zu führen, dass eine wissenschaftliche Weltsicht und eine Anschauung der Dinge mit den Augen des religiösen Glaubens sich nicht nur nicht widersprechen, sondern einander bereichern, weil sie sich zu einer ganzheitlichen Erfahrung der Realität ergänzen. Das ist üblicherweise ein Anliegen religiöser Wissenschaftler.

„Gläubige werden erleichtert sein zu erfahren, dass auch Religion hinterfragt werden darf.“ Markolf Niemz

Als solcher versteht sich offenbar auch Niemz. Dabei ist er alles andere als ein christlicher Apologet, der sein Gottesbild im Strom des übermächtigen szientistischen Zeitgeistes konservieren will. Ohnehin ist der Glaube des Verfassers, der ab und an durchscheint, allenfalls christlich grundiert. So unterschätzt Niemz das Gebet als reine Psychohygiene des Beters (und unterschätzt damit übrigens auch den zur Stützung dieser Sicht herangezogenen Leibniz, bei dem die Gebete in ihrer Wirksamkeit Teil des von Gott vorhergesehenen Weltlaufs sind), der Topos „Ewiges Leben“ wird nach eigenem Gusto verzerrt („ewig“ bedeutet für Niemz nicht „zeitlich unbegrenzt existierend“, sondern „stets im Licht abrufbar“) und von der Kirche selbst scheint der Verfasser auch nicht allzuviel zu halten, wenn er meint, „Religionsführer“ gängelten die Gläubigen heute immer noch so sehr, dass diese nicht aufzumucken wagen: „Gläubige werden erleichtert sein zu erfahren, dass auch Religion hinterfragt werden darf.“ Sagt Niemz. Ich hingegen kenne keinen einzigen Katholiken, der meint, Religion dürfe nicht hinterfragt werden. Im Gegenteil: Man wäre ja heute schon dankbar, wenn nicht jede und jeder Gläubige andauernd die christliche Religion hinterfragte, sondern ausnahmsweise auch mal praktizierte.

Die ethische Dimension des Guten und des Bösen

Allzu leichtfertig wirft Niemz in seinem Bemühen darum, die beiden Sichtweisen zu „Seiten einer Medaille“ zu machen, Dinge über Bord, die dabei stören, mit der Begründung, dass der Streit um sie eigentlich überflüssig sei. Das Konziliare seiner Haltung geht manchmal sehr weit: Gut und Böse – bloß zwei Seiten einer „Fortschrittsmedaille“? Zwar ist die Perspektive auf ein Ereignis – Niemz nennt sympathischerweise das WM-Finale 2014, das Argentinier in „böser“ und Deutsche in „guter“ Erinnerung haben – meist subjektiv (und daher sehr unterschiedlich), doch jenseits der Gefühlsebene gibt es eben auch die ethische Dimension des Guten und des Bösen, die sich nicht so leicht zur Geschmacksfrage verniedlichen lässt. So gibt es etwa in sich böse Handlungen. Aus Spaß Babys zu foltern, ist böse, immer und überall, auch wenn sich irgendwo eine Gruppe von Menschen finden sollte, die das gut finden. Niemz augenzwinkernde Leichtigkeit ist hier nicht schlüssig, zumal er das (moralische) Böse, das man absichtsvoll tut, nicht hinreichend genau vom (außermoralischen) Übel trennt, das einem unheilvoll widerfährt.

In seinem Gedankengang gibt es viele Stellen, die provozieren, weil er immer wieder auch das Gegenteil des zuvor Behaupteten mit der gleichen Berechtigung zulässt. Hier wird es dann nicht nur für Anhänger einer streng zweiwertigen Logik unscharf und in der Beliebigkeit der These-Gegenthese-Kompatibilitätsthese am Ende völlig nichtssagend. Andererseits will Niemz philosophische Probleme wie die Theodizee und die Willensfreiheit in einem Nebensatz auflösen. Für eine Antwort auf die Theodizeefrage schlägt er kurzerhand vor, Gott die Allmacht abzusprechen. Auf den Gedanken kamen auch schon andere (Hans Jonas etwa), das Problem gibt es aber immer noch, weil sich die Frage nach der Gerechtigkeit auch an einen „ziemlich“ mächtigen Gott richten lässt.

Der freie Wille lässt sich so leicht nicht aufweisen

Und dann die Willensfreiheit. Den freien Willen gegen deterministische Menschenbilder zu verteidigen, kommt ihm nicht in den Sinn. Für ihn ist Libets berühmt-berüchtigter Befund zu den neuronalen Prozessen, die unseren Aktionen vorausgehen, schlicht eine Bestätigung dafür, dass das Unbewusste unser Bewusstsein beeinflusst und uns auf diese Weise steuert, zugleich aber miteinander verbindet. Auch hier wieder: Aus dem Problem wird rasch eine Lösung gewonnen. Praktisch. Dass wir einen freien Willen haben, versucht Niemz dann doch noch nachzuweisen, mit einem Spielchen: Er bittet die Leserin beziehungsweise den Leser, das Kapitel über das Libet-Experiment noch einmal zu lesen und damit in eine Endlosschleife einzutreten, die sie oder ihn die vier Seiten des Kapitels immer wieder lesen ließe. Das ist natürlich unvernünftig – man merkt es. Willensentscheidungen werden – das war schon Thomas von Aquin klar – nur dann getroffen, wenn sie auch vor der Vernunft und dem Gewissen bestehen. Niemz zeigt hier also eher, dass seine Leserschaft vernünftig ist, nicht jedoch, dass sie frei ist. Der freie Wille lässt sich so leicht nicht aufweisen.

Sprachlich ist Niemz – manchmal etwas übertrieben – um Lockerheit bemüht. Das Interview mit dem Autor, dass sich den sechs philosophischen Herausforderungen („Challenges“) und dem Bonuskapitel zur Relativitätstheorie und Nahtoderfahrungen anschließt, heißt „Talk“, der Textfluss wird regelmäßig durch erklärende Graphiken auf Volkshochschulniveau unterbrochen, zitierte Geistesgrößen werden mit Porträt und Lebensdaten eingeführt, die ohnehin sehr reiche Bebilderung wirkt manchmal etwas verspielt, so dass der Eindruck einer bisweilen recht verkrampften Lockerheit entsteht. Im insgesamt recht kurzen Text (für diesen verbleiben vielleicht zwei Drittel des mit 190 Seiten für die angesprochenen Themen recht überschaubaren Buchumfangs) wird die Grenze zwischen „einfach“ und „banal“ gelegentlich zumindest gestreift.

Ein erster Anhalt zur weiteren Vertiefung

Es ist also ein Buch, das man gerne denen empfehlen wollte, die keine oder kaum Vorkenntnisse besitzen und daher auch kein fallbezogenes Diskursniveau kennen, das Texte zur Sache erreichen können – oder eben auch nicht. Guten Gewissens kann man das aber nur, so sie denn versprechen, den Text lediglich als ersten Anhalt zur weiteren Vertiefung der Topoi heranzuziehen – nicht als der Weisheit letzter Schluss. Alle anderen werden wohl enttäuscht sein und sich über die Ungenauigkeiten und die vorschnelle, ja, fast nassforsche Depotenzierung philosophischer Schlüsselprobleme ärgern.

Markolf H. Niemz: Die Welt mit anderen Augen sehen. Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität. Gütersloher Verlagshaus 2020, 192 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-579-06212-9, EUR 20,00 [D], EUR 20,60 [A], CHF 28,90

Kurz gefasst

Die Weisheit, gut gemeint sei selten gleichbedeutend mit gut gemacht, erfährt mit Markolf Niemz‘ Buch „Die Welt mit anderen Augen sehen. Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität“ eine weitere Bestätigung. Allzu oberflächlich verfährt der Autor, zu voreilig werden die Kontroversen aus dem Weg geräumt, die Schnittmenge zu irritationslos erschlossen. Inhaltlich und auch formal kommt es übermütig einem Zeitgeist entgegen, der beides verbilligt haben möchte: Wissenschaft und Religion. Niemz‘ Ansatz kann so leider nicht überzeugen und trägt nur wenig zum Diskurs über Glauben und Wissen bei.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe

Themen & Autoren
Josef Bordat Ewiges Leben Gottesbild Gottfried Wilhelm Leibniz Katholikinnen und Katholiken Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Thomas von Aquin

Weitere Artikel

Zu den originellsten und bis heute diskutierten Gedanken über das Wesen der Zeit gehören ausgerechnet diejenigen des frühchristlichen Bischofs.
29.02.2024, 07 Uhr
Stefan Rehder
Von Alfred Döblin über Gilbert Keith Chesterton bis Jon Fosse: Sobald Gott ins Spiel kommt, erfährt auch das eigene Werk eine Taufe.
22.02.2024, 13 Uhr
Esther von Krosigk

Kirche